Hier also die versprochene Begründung dafür, daß ich dieses Gedicht erstklassig finde:
Ich muß vielleicht vorausschicken, daß Spinnen (bis zu einer vernünftigen Größe jedenfalls) für mich nicht mit negativen Vorstellungen und Empfindungen besetzt sind – ich kann mir schon vorstellen, daß es den Zugang zu diesem Gedicht erschweren könnte für jemanden, den vor Spinnen graust.
Wenn schon das erste Lesen eines Gedichts in mir eine Vielfalt von Assoziationen auslöst, ist das für mich allein schon ein Qualitätsmerkmal, denn sonst sehe ich keinen Grund, es nochmals zu lesen. Das war bei diesem Gedicht unmittelbar der Fall und der Grund dafür, warum ich die in ihm enthaltenen Gedanken- und Bildverknüpfungen aufsuchen wollte.
Da wäre also die Netzhaut, die ein Bestandteil des Auges ist und einen eigenständigen Begriff bildet; und da wären die beiden Teile des Wortes, nämlich Netz und Haut, die wiederum eigene Bilder tragen. Alle drei werden in dem Gedicht in sinnstiftender Weise miteinander verknüpft.
Da also die Netzhaut eine Haut ist, kann man sie tätowieren, d.h. Bilder oder Zeichen dauerhaft einprägen, darin oder darauf befestigen, dauerhaft machen. Tätowieren führt die Vorstellung zu Tinte und Farbe, und es kann sich also bei diesem Bild um die Befestigung dessen handeln, was das Auge durch die Netzhaut einfängt (Netz), also um Erinnerung, um den Prozeß, „sich ein Bild zu machen“ von dem was ein-trifft. Wobei nicht zu vergessen ist, daß es sich bei der Tätowierung von Haut um eine durchaus schmerzhafte und blutige Prozedur handelt.
Im weiteren Verlauf des Gedichts geht die Vorstellung auf den Wortbestandteil „Netz“ über und auf die Tatsache, daß es sich dabei um ein Spinnennetz handelt. Ein Spinnennetz gibt es natürlich nur, wo eine Spinne ist, die es spinnt. Wenn wir einmal das Spinnennetz als das Werk der Spinne betrachten, so kann man Spinnennetz als ein Kunstwerk sehen und die Spinne als den Künstler. Und da „spinnen“ oder „ausspinnen“ im übertragenen Sinne verbunden ist mit der Vorstellung von Wortkunst und Wortkünstler, darf man in diesen Bildern getrost den Dichter und sein Dichtwerk sehen.
Nun denn, da ist also das Spinnennetz, auf dem sich die Spinne bewegt, es fortwährend abtastet auf seine Tragfähigkeit hin, Schäden repariert und es ausbaut, es formt. Und über das Netz der Netzhaut „tastet sie hinweg“ – was bedeuten kann, daß sie in den Grenzen des Netzes tastet oder auch „darüber hinweg“, darüber hinaus.
Den Rest der Zeit sitzt die Spinne oder der Dichter in einem der Winkel ihres/seines Netzes und wartet. Worauf wartet sie/ er? – auf Beute natürlich. Und was ist die Beute einer Spinne/ eines Dichters? – Leben. Lebendiges, das ihr/ihm zur Nahrung dienen kann.
Hinzufügen möchte ich noch, daß sich das Gedicht für mein Empfinden gut liest, d.h. daß die Atemführung der Zeilen stimmt, und daß ich die täuschend einfache Diktion liebe, mit der es so unscheinbar daherkommt, die es aber faustdick hinter den Ohren hat. Das sind Eigenschaften und Merkmale, die das Werk Otto Lenks insgesamt charakterisieren.
Und so erweist sich das Gedicht „netzhaut“ für mich als das, was es beschreibt: als ein kunstvolles, luftiges, bewegliches Netz, in dem sich allerlei fangen kann: Gedanken, Bilder, Gefühle.
(also das müßte man natürlich noch straffen, aber nun hab ich es für heute abend versprochen, und es kann, glaube ich, erstmal so stehen)
lieben Gruß Eva
_________________ bye, bye, my I
|