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 Betreff des Beitrags: das bild, das sich bietet
BeitragVerfasst: Do 17. Sep 2015, 19:40 
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nachts geht lautlos ein reh ums haus
glaube ich
und knabbert an meinen blumen
bescheiden wie

aus einer anderen welt
in der keiner leben muß
von allem, was auch leben will

und wo vielleicht
die wesen geordnet werden
zu neuen symmetrien

hier gehen schatten um
von denen man nicht weiß
woher sie kommen

ich habe keinen zaun
das haus werde ich verlassen
dem morgennebel vertrauen

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 Betreff des Beitrags: Re: das bild, das sich bietet
BeitragVerfasst: Fr 18. Sep 2015, 10:53 
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Dies lautlose Reh hat es mir angetan! Fürs Gedicht - und für die Realität. Wie lange habe ich kein Reh mehr gesehen. Außer im Zoo und vom Zug aus. Früher hatten wir sie im strengen Winter auch im Garten.

Die andere Welt steht im Vordergrund. Still. Dort leben keine Kannibalen oder Naturtiere, kein der-Stärkere-überlebt. Sanft scheint es dort. Ein Traum. Das kann nichts anderes sein als ein Traum.

Die Vorstellung vom Leben in der anderen Welt, auch ein Wunschtraum:

und wo vielleicht
die wesen geordnet werden
zu neuen symmetrien


Dieser Part gefällt mir sehr! Er lässt das eigene Bild so schön offen, welches unsere Idee von einer neuen Symmetrie, einer Anordnung in der Welt sei.

"ich habe keinen zaun" möchte ich deuten als die Möglichkeit, von einer Welt in die andere, in Phantasie, in Traum, in neugestaltetes Menschsein zu gehen. Offen sein. Gefällt mir.

Aber dann. Hier tue ich mich schwer. "verlassen", das hört sich so endgültig und nach Trennung an. Ist das Haus nicht eine Trutzburg, ein Schutz, in dem sich eigene Lebensmodelle leben lassen?


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 Betreff des Beitrags: Re: das bild, das sich bietet
BeitragVerfasst: Fr 18. Sep 2015, 15:07 
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ich weiß, ich bin nicht in der interpretation so geübt, möchte mich dennoch mal darin versuchen, weil es ein spannendes werk ist.

"ich habe keinen zaun" das erinnert mich an meinem bild, das ich gemalt habe vor jahren: "von fehlenden türen"
keinen zaun zu haben, hat gute und negative seiten. man kann durch offenheit gutes wie schlechtes erfahren....

das vermutliche reh, in deinem gedicht, das lautlose, ist keine drohende gefahr - ein einvernehmen, doch gehen schatten um, fremde, einer (trügerischen) idylle.
ja, da ist es besser zu gehen, denn: "ich habe keinen zaun" - gleichwohl kann man sich erdenken, durch das gehen, zum reh zu werden... so dass der kreis sich schließt.


anderseit jedoch sehe ich auch zwei welten, eine idyll und eine welt voller abendteuer. zwei die sich nicht vereinbaren lassen.

man kann es mehrschichtig lesen und von vielen seiten betrachten. das gefällt mir sehr.


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 Betreff des Beitrags: Re: das bild, das sich bietet
BeitragVerfasst: Fr 18. Sep 2015, 21:10 
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vielen dank dafür, daß ihr es beide ganz weitgehend so gelesen habt, ich ich es mir gedacht hatte, das freut mich sehr.

eine umstellung habe ich in der dritten strophe des leserhythmus wegen noch gemacht, und vorallem noch einmal nachgedacht über das, was du über die letzte strophe sagst, bess.
ich glaube, ich sollte dort klarer zum ausdruck bringen, daß das verlassen sich auf eine unbestimmte zukunft richtet (ich hatte gedacht, daß das "ich werde" ausreicht, aber dem ist nicht so).

hier stelle ich also noch einmal die neue version vor, die jedenfalls mir selber besser gefällt:

nachts geht lautlos ein reh ums haus
glaube ich
und knabbert an meinen blumen
bescheiden wie

aus einer anderen welt
in der keiner leben muß
von allem, was auch leben will

und wo vielleicht die wesen
geordnet werden
zu neuen symmetrien

hier gehen schatten um
von denen man nicht weiß
woher sie kommen

ich habe keinen zaun
das haus werde ich irgendwann verlassen
dem morgennebel vertrauen



nochmals vielen lieben dank! smiley_101:

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 Betreff des Beitrags: Re: das bild, das sich bietet
BeitragVerfasst: Sa 19. Sep 2015, 06:57 
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durch das "irgendwann" bekommt das gedicht eine ganz andere haltung. etwas vages, unsicheres, oder mahnendes.
ich weiß jetzt nicht, ob mir das vorige bild besser gefiel, das das wissen einer endkonsequenz trug, die jetzt in einer vagen unsicherheit liegt.
es hat wohl beides seinen reiz. smiley_99:


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 Betreff des Beitrags: Re: das bild, das sich bietet
BeitragVerfasst: Sa 19. Sep 2015, 07:38 
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smiley_80:

Ich finde die zweite Versin stärker!

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 Betreff des Beitrags: Re: das bild, das sich bietet
BeitragVerfasst: So 20. Sep 2015, 21:35 
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Weißt du, Eva, worüber ist stolpere? Es besteht den langen ersten Teil des Gedichtes kein Grund, warum etwas verändert werden sollte. Nun, dann ab der möglichen neuen Symmetrie, eröffnen sich neue Denkebenen. Ist es dir wichtig zu sagen, dass du das Haus verlassen wirst? Hat also der Gedanke einer anders gestellten Welt einen Willen zur Veränderung ausgelöst? Einen Impuls zur Aktivität?

Ich frage mich, nein, ich für mich, wenn ich im Haus wäre, das Reh beobachtend, würde die Eingebung haben:
ich kann das haus verlassen. (ich kann das haus ja verlassen)

Das waren so meine Gedanken.
Und einem Nebel vertrauen? Du bist ein anderer Mensch, ja. Ich hätte Sorge bei mangelnder Sicht.
Du scheinst experimentierfreudiger. Unter dem Nebel kann sich alles verstecken, auch ein falsches Versprechen. Ich scheine ängstlicherer Natur. :-)
Du siehst, dein Text beschäftigt mich.


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 Betreff des Beitrags: Re: das bild, das sich bietet
BeitragVerfasst: So 20. Sep 2015, 21:53 
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Ich denke gerade an eine Passage aus Tomas Tranströmers "Schubertiana" ...
Wenn du magst, kannst du es hier im Forum nachlesen, ich habe vor vielen Jahren den ganzen Text eingestellt: viewtopic.php?f=45&t=75&start=15

Zitat:
IV
So vieles, worauf wir uns verlassen müssen, um unseren Alltag leben zu können, ohne durch die Erde zu sinken!
Uns auf die Schneemassen verlassen, die sich an den Berghang oberhalb des Dorfes festklammern.
Uns auf die Schweigeversprechen und auf das einverständige Lachen verlassen, uns darauf verlassen, daß die Unglückstelegramme nicht uns gelten und daß der jähe Axthieb von innen nicht kommt.
Uns auf die Radachsen verlassen, die uns auf den Autobahnen mitten im dreihundertmal vergrößerten Bienenschwarm aus Stahl tragen.
Aber nichts von alledem ist eigentlich unser Vertrauen wert.
Die fünf Streicher sagen, daß wir uns auf etwas anderes verlassen können. Und sie begleiten uns ein Stückchen auf dem Weg dorthin.
So, wie wenn im Treppenhaus das Licht ausgeht, und die Hand – vertrauensvoll – dem blinden Geländer folgt, das durchs Dunkel führt.


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 Betreff des Beitrags: Re: das bild, das sich bietet
BeitragVerfasst: So 20. Sep 2015, 22:53 
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Danke! Wunderbarer Text.
Und Musik, ja Musik, der würde ich auch im Nebel folgen. ;-)
Gute Nacht!


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 Betreff des Beitrags: Re: das bild, das sich bietet
BeitragVerfasst: Di 22. Sep 2015, 08:55 
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unser leben

eine momentaufnahme
die auf nichts beruht
als der annahme
es sei die wirklichkeit

dabei genügte ein blick
nach oben

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Der Kopf denkt weiter als man denkt.


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 Betreff des Beitrags: Re: das bild, das sich bietet
BeitragVerfasst: Di 22. Sep 2015, 12:21 
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oh ja ... smiley_52:

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 Betreff des Beitrags: Re: das bild, das sich bietet
BeitragVerfasst: Mi 23. Sep 2015, 15:22 
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ich hoffe immer noch, dass es ein bischen mehr ist

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 Betreff des Beitrags: Re: das bild, das sich bietet
BeitragVerfasst: Mi 23. Sep 2015, 21:18 
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Mai Britt
Wenn es doch unsere Wirklichkeit ist, dann liebe ich es und lebe es gern, dies Leben.
Der Blick nach oben - mag mich vielleicht zur Ameise erklären. Und wer weiß, was es hinter den Sternstraßen und Planeten noch gibt, hinter denen diese klein scheinen.
[nur mit der Endlichkeit habe ich Probleme.]


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 Betreff des Beitrags: Re: das bild, das sich bietet
BeitragVerfasst: Do 24. Sep 2015, 14:17 
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Hej Bess,
ich hatte meine Aussage auf "annahme es sei die wirklichkeit" bezogen. Ich hoffe, dass die wirklichkeit nicht nur eine Annahme ist.
Mit dem Thema "Endlichkeit" habe ich auch so meine Probleme. Ich glaube, man muss sehr alt werden, um dieses Problem abzulegen.
Meine Bewunderung gilt jenen, die die Endlichkeit früh zu spüren bekommen und doch nicht den Kopf in den Sand stecken.

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