Du. Meine Oma war bei den Zeugen Jehovas. Was für mich bedeutete, dass sie mir in regelmäßigen Abständen den Untergang der Erde zelebrierte. Zelebrierte, im wortwörtlichen Sinne. Meine erste Erinnerung daran geht auf ein Abendessen zurück. Ich saß mit Oma am Tisch. Plötzlich explodierte sie. Kawumm rief sie, verdeutlichte ihre Kawumms mit ausholenden Armbewegungen. Kawumm! Ich war wie vom Donner gerührt. ‚So wird es heute Nacht sein‘, rief sie. ‚Kawumm‘!!! ‚Die Welt wird heute Nacht untergehen. Die Himmel werden einstürzen. Kawumm‘!!! ‚Aber warum, warum‘? rief ich verängstigt, hatte ich Oma doch noch nie zuvor explodieren sehen. ‚Gott straft die Menschen für ihr Tun. Weil sie böse sind, nicht bereuen, keine Buße tun‘! Daraufhin rief ich Oma in Erinnerung, dass sie mich immer einen lieben Jungen nannte. ‚Du….du kommst natürlich in den Himmel. Alle guten Menschen kommen in den Himmel. Aber über die Bösen werden die Himmel einstürzen. Und hinter den einstürzenden Himmeln lauern die Engel auf die Ungläubigen, die Schlechten. Mit ihren Feuerschwertern werden sie sie zerteilen. Zong, Zong, Zong! Ein Meer aus Blut, ein Meer aus Blut‘. Ich erinnere mich, dass es noch eine ganze Weile kawummte und zongte, Oma mit Zornesröte im Gesicht über das lästerliche Weltenvolk resümierte. Ich schwieg den restlichen Abend. Zu tief hatte sich bei mir das Gesehene, das Gehörte, eingebrannt. Dann kam die Nacht. Ich dachte an Oma, wie sie mit ihren Armen die Himmel einstürzen ließ. Dies war gleichzeitig der Himmel, den mir Oma offerierte. Dort sollte ich heute Nacht hin. In einen einstürzenden Himmel, hinter dem Engel mit Feuerschwertern lauerten. Etwas in mir sagte, dass dies nicht der Ort sei, wo ich nach dem Ende der Welt sein wollte. Also hieß es Pläne schmieden. Verstecken! Ja…verstecken war die Lösung. Unters Bett, und aus Kissen und Bettdecke eine Burg gebaut. Gesagt, getan. Und so lag ich da unten, aufs Ende der Welt wartend. Ich hatte Angst, aber ich war auch voller Zuversicht, dass weder die Himmel über mir einstürzen noch die Engel mich mit ihren Schwertern zerlegen würden. Irgendwann schlief ich ein. Am nächsten Morgen hörte ich Omas Stimme. ‚Was tust du denn da unterm Bett‘?, fragte sie. Ich rutschte unterm Bett hervor, sah das Tageslicht und fragte: ‚Ist es schon Morgen‘? ‚Ja…wieso‘?, antwortete Oma wie selbstverständlich, wo es doch gar kein Morgen hätte geben dürfen. ‚Was ist mit den einstürzenden Himmeln und den Engeln und ihren Feuerschwertern‘, fragte ich, worauf Oma die Hände faltete und sagte, dass uns Gott wohl noch eine Chance gäbe. In mir stürzten Tausende von Engeln mit Feuerschwertern gefällte Himmel ein. Ich war gerettet. Es sollten noch einige Weltuntergänge folgen. Mit der Zeit verloren sie an Kraft, denn im Grunde genommen waren sie auch nicht schlimmer als die Märchen, die Oma mir abends erzählte.
_________________ Der Kopf denkt weiter als man denkt.
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