so, habs hernach durchgelesen. und bin beeindruckt von dem Buch. sehr. Ich hab kaum ein authentischeres Werk gelesen, eines das so sehr an der Wahrheit rührt.
die Autorin schreibt in ihrem Vorwort:
" Ich schreibe dieses Vorwort, während auf dem Tisch schon das fertige Manuskript liegt. Ich höre die Stimmen ... Kein Chor, wie das früher war, sondern einzelne menschliche Stimmen mit unterschiedlichem Klang. Und jede mit ihrem Geheimnis. Ich habe Angst. Ja, ich habe Angst vor meinem Buch. Am liebsten würde ich nichts von all dem wissen, was sich da über uns angesammelt hat und nun zutage tritt. Woher den Mut nehmen, die Wahrheit zu hören? ....................... Wovon handelt dieses Buch? Davon, was Maria Z. den "Wunsch, nicht zu sein" genannt hat? Aber sogar im Mord zeigt sich der Mensch nicht ganz, ebensowenig im Selbstmord. Das Buch handelt davon, wer wir sind. Geschichte in Form von lebendigen Zeugnissen, lebendige Energie. Es ist schwer, anderen Menschen, die nicht dabei waren, die eigene Zeit verständlich zu machen, denen, die nicht im Sozialismus gelebt haben ............... Ideen kennen keinen Schmerz, obwohl wir jetzt zum erstenmal von der Verantwortung sprechen, von Schuld der Idee als ein Karzinom, das unser Gedächtnis, unser Leben zerfressen hat, das uns von der Welt abgeschirmt hat. Auf einmal sind wir Geiseln dieser starren Idee geworden. .........."
Was mich so von diesem Buch überzeugt hat, dass ich hier jeder Geschichte folgen kann. Dass ich jede einzelne Biografie verstehe. Das die Autorin keiner der Erzähler drängt oder bedrängt, sondern seine geschichte erzählen lässt. Ganz besonders eine hat mich sehr berührt. Die von Anna M. (Architektin, 55 Jahre) :
"Zuerst habe ich geträumt, dass ich gestorben bin... Der Traum war früher da, als ich sterben wollte und über den Tod nachgedacht habe. Als Kind habe ich viele Menschen sterben sehen, es aber später wieder vergessen............... Ich war so vertrauensvoll! Ich hab so gerne gelebt, das Leben hat mich überwältigt, mich fasziniert. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll ...."
Anna M. erzählt ihre Geschichte weiter, spricht über die Verhaftung ihres Vater 1937, daraufhin wurde auch ihre Mutter inhaftiert. Anna M. war geade vier Monate und wurde mit verhaftet, wuchs dann im Gefängnis und später dann in Heimen auf. Sie nennt das Gefängnis Zone. Sie beschreibt ihr leben in der Zone und wie sie sich und andere Kinder manchmal in die Baracken schleichen, wo ihre Mütter lebten. ....: "Wir schlichen in die Frauenbaracke. Alle waren auf Arbeit. Wir wussten das, trotzdem gingen wir leise rein und "beschnüffelten" alles, wie junge Hunde: die Eisenbetten, den Blechkanister mit dem Trinkwasser, den Becher an der Kette ... Alles roch nach unseren Müttern ...... "
weiter erzählt sie: "Unsere Eltern kannten wir nur als Inhaftierte. Meine Mutter war mir so fremd, dass ich am liebsten ins Kinderheim zurückgegangen wäre, als sie nach Hause kam. Und diese Fremdheit war nicht zu überwinden...."
Anna M. hat geheiratet, sie hat Kinder, ihr Mann lässt sich scheiden, ihre Kinder sagen ihrer Mutter, sie wollen von ihrer Geschichte nichts hören, das grauen interssiere sie nicht, sie wollen nicht erinnert werden. Anna M. fühlt sich überflüssig, sinnlos, sie dreht den Gashahn in der Küche auf, hat das Radio eingeschaltet ....
"In der Russischen Föderation ist die Selbstmordrate deutlich angestiegen. 60 000 Menschen seien 1991 aus dem Leben geschieden, das seien 20 000 mehr als im Jahr davor ....." (Frankfurter Rundschau 1992)
".... Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Selbstmorde in Omsk im Vergleich zum Vorjahr um das siebenfache gestiegen.............." (Komsomolskaja Prawda 1993)
usw usw usw ....
man sollte es lesen, das Buch.
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