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 Betreff des Beitrags: Pessl: Die alltägliche Physik des Unglücks
BeitragVerfasst: Do 16. Jan 2014, 18:34 
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http://www.amazon.de/allt%C3%A4gliche-P ... 929&sr=1-1

Sechzehn sein ist ein Alptraum. Sechzehnjährige, jedenfalls Mädchen, haben einen Vaterkomplex und sind einerseits völlig überdreht und andererseits so hellsichtig wie nie wieder im Leben. In unseren nördlichen Breitengraden fallen auf beiden Seiten des Atlantiks in dieses Lebensalter die wichtigsten schulischen, seelischen und gesellschaftlichen Entscheidungen, und ob man selbst darauf irgendeinen Einfluß hat, ist eine umstrittene Frage, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann. Drüben in Amerika gibt es eine literarische Tradition zu dem Thema, man denke an J.D. Salingers „Der Fänger im Roggen“ und Sylvia Plaths „Die Glasglocke“. Am meisten hat mich Marisha Pessls Buch „Die alltägliche Physik des Unglücks“ jedoch an Franҫoise Sagans „Bonjour Tristesse“ erinnert.

Um sechzehn herum ist die Zeit, in der sich einer jungen Person die Menschen und die Welt entlarven und sich zeigen, wie sie wirklich sind. Alles, was davor war, gleitet unter den Füßen weg, und dann steht man da und darf sich den ganzen Kram neu zusammensetzen, damit man irgendwie weiterleben kann ohne die Menschen und die Welt, wie sie vorher waren.

So ergeht es auch Blue, einer hochintelligenten High School-Schülerin im Abschlußjahr, deren Mutter tot ist, und die mit ihrem Politologenvater von einem Bundesstaat der USA zum andern zieht, weil er an keiner Universität länger als ein Semester unterrichten will. Auf ihrer letzten Station in einem Nest in North Carolina gerät sie in verwirrende Beziehungen zu einer Lehrerin, die sie in eine Gruppe von ihr bevorzugter Schüler hineinzieht. Als die Lehrerin unter mysteriösen Umständen stirbt und ihr Tod als Selbstmord rubriziert wird, tritt Blue, die ihre Gründe hat, daran zu zweifeln, zu einer scharfsinnigen Untersuchung aller möglichen Umstände und Zusammenhänge an, die sie immer tiefer in die Geheimnisse der „erwachsenen“ Welt hineinführen. Und so entfaltet sich vor dem Leser ein gut verwickelter Krimi mit allem Drum und Dran, inklusive zahlreicher Verweise auf die berühmte Kriminalliteratur aller Zeiten.

Auf die Spur gebracht wird Blue vor allem durch eines der amerikanischen Traumata, das Motiv des spurlosen Verschwindens von Menschen, das im öffentlichen Leben und auch in der Literatur dieses riesigen, immer noch wilden Kontinents immer wieder eine große Rolle spielt. Ich mußte in diesem Zusammenhang an Annie Proulxs Roman „Postkarten“ denken, aber es gibt da so viel mehr, worauf Pressl auch fortlaufend Bezug nimmt.

Zahllose Referenzen, Zitate und Anmerkungen, realer und fiktiver Art, sind überhaupt ein Stilmittel, dessen sich Pressl ausgiebig bedient, und das durchaus seinen Reiz hat und zur Vermittlung der geistigen Lage dieses heranwachsenden jungen Menschen Blue beiträgt.

Auf viele Aspekte dieses vielschichtigen Buches bin ich hier gar nicht eingegangen, ich denke wirklich, man muß es selbst lesen. Es ist ein in vieler Hinsicht durchgeknalltes Buch, die Schilderung einer überdrehten Phase im Leben eines jungen Menschen - einer Phase, an die ich mich selbst auch ganz gut erinnere, denn so sehr viel anders ist es ja auch hier bei uns nicht.

Eine spannende Geschichte, die ich in einem Rutsch (600 Seiten!) sehr gern gelesen habe und warm empfehlen kann.

_________________
bye, bye, my I


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