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 Betreff des Beitrags: Graham Swift: Ein Festtag
BeitragVerfasst: Do 12. Jul 2018, 14:36 
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Ich habe gerade eine reizvolle, kleine Geschichte gelesen, deren wesentlicher Teil kurz nach dem 1. Weltkrieg im Süden Englands spielt. Jane, das junge Dienstmädchen von Beechwood, und Paul, der Spross aus begütertem Haus, haben ein Verhältnis miteinander. Heimliche Botschaften, verschwiegene Treffen, doch heute, an diesem sonnigen Märzsonntag 1924, wird Jane – Familie und Dienerschaft sind ausgeflogen – ihr Fahrrad einfach an die Hausmauer des Anwesens lehnen, und durchs Hauptportal herein und nicht durch den Hintereingang ins Bett ihres Geliebten kommen. Ein erstes und ein letztes Mal, denn Paul wird bald – standesgemäß – heiraten. Später, gegen Mittag, wird sie leichtfüßig und nackt durch das weitläufige Haus streifen, beseelt von der rauschhaften Innigkeit dieses herausgehobenen Morgens und nicht ahnend, das ihr Leben am Ende dieses Tages zu zerbrechen droht.

An sich keine sehr vielversprechende Geschichte, aber Jane ist prädestiniert, ihre höchst eigene daraus zu machen, sie sich auf sehr persönliche Art anzueignen. Sie war nämlich nach ihrer Geburt ohne jeden Hinweis auf ihre Herkunft vor der Tür eines Waisenhauses abgelegt worden. Sie bekam einen Namen und ein ungefähres Geburtsdatum zugeteilt, betrachtete sich später aber als sowohl namen- und alters-, als auch gewissermaßen voraussetzungslos, woraus sie die exquisite Freiheit herleitete, sich selbst und ihre Welt immer wieder neu zu erfinden und sozusagen Anspruch zu erheben auf Deutungshoheit zu in allem, was ihr widerfährt und wie sie das Leben betrachtet – eine große Leistung für eine Frau ihrer Herkunft und ihres Standes, besonders in einer bis heute so furchtbar standesbewußten Gesellschaft, wie der englischen.

Während sich der erste Teil des Buches für mein Gefühl etwas schwerfällig liest, wird es im Schlußteil richtig spannend. Jane wird nämlich in ihrem weiteren, beinahe das ganze zwanzigste Jahrhundert umfassenden Leben eine erfolgreiche Schriftstellerin, Geschichtenerzählerin. Fehlgeleiteten Fragen in Interviews weiß sie sich auf freundliche, aber letztlich ungreifbare Weise zu entziehen. "Es war doch eine gute Maskierung, achtzig Jahre alt zu sein und ein Gesicht voller Falten zu haben.“ Auch in ihren Büchern erzählt sie ihre Geschichten und behält sie zugleich auf geheimnisvolle Weise für sich. Und wird dadurch „eine von denen, deren wahres Wesen größtenteils unbehelligt und unbemerkt existiert.“ Denn eine Erzählerin muß sich preisgeben, aber auch schützen. So erinnert sie mich lebhaft an eine freundliche Version von Karen Blixens „abründiger und gefährlicher kleiner Gestalt, gesammelt, gewappnet und erbarmungslos – den Geschichtenerzähler aller Zeiten.“

_________________
bye, bye, my I


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