Eine orientalische Geschichte
Im Teehaus saßen die Männer des Dorfes und schlürften ihren Tee aus kleinen Gläsern. Es war schon dunkel, denn es war Winter. Schnee lag auf der Landschaft, und die Männer, die alle Bauern waren, hatten um diese Jahreszeit wenig zu tun. In ihren Häusern wollten sie auch nicht sein, denn da zankten und lärmten die Weiber und die unzähligen Kinder. Hier hingegen saßen sie schweigend beim Brettspiel oder unterhielten sich und sogen an ihren Wasserpfeifen, so daß es behaglich gluckerte und der kahle Raum in leichte Rauchschwaden getaucht war, die das grelle Licht der einzigen Hundert-Watt-Birne an der Decke dämpften.
Als das Brettspiel langweilig zu werden begann, und schon eine ganze Weile keiner von ihnen mehr etwas gesagt hatte, gähnte und streckte sich der eine und fragte in den Raum hinein, ob nicht jemand eine spannende Geschichte wüßte. „Oh, ich habe da gerade etwas erlebt, was euch die Haare zu Berge stehen lassen wird“, kam es daraufhin aus der einen Ecke des Teehauses. Der Sprecher war im Dorf als notorischer Lügner bekannt, aber wenn er etwas Neues zu erzählen hatte, sollte es den Männern recht sein, und überhaupt nimmt man es bekanntlich im Orient nicht so genau mit der Wahrheit wie hier bei uns. Er legte denn auch gleich richtig los.
„Vor ein paar Tagen bin ich auf der Jagd gewesen, da sah ich plötzlich sechs Löwen auf mich zukommen. Gleichzeitig fiel mir ein, daß ich für meine Flinte nur fünf Kugeln bei mir hatte. Aber mir blieb kaum Zeit zu überlegen, was ich nun machen sollte, da war der erste Löwe schon heran, und ich erschoß ihn. Dem zweiten Löwen erging es ebenso, und auch den dritten erwischte ich mit einer einzigen Kugel. Ich kam in Stimmung, und das Glück blieb mir treu, so daß ich den vierten Löwen erledigte und den fünften...“
Genau an dieser Stelle der Geschichte aber betrat ein neuer Gast das Teehaus und wurde reihum von allen Anwesenden herzlich und ausführlich begrüßt, nach dem Ergehen aller seiner Familienmitglieder einzeln befragt und mit Tee und anderen Annehmlichkeiten versehen. An die Geschichte dachte keiner mehr. Erst eine Weile später, als sich die Neuigkeit gelegt hatte und alles wieder seinen gewohnten Gang ging, kam jemand darauf zurück.
„Du, wie ging es denn nun weiter“, wandte er sich an den Erzähler. „du hattest doch gesagt, daß du nur fünf Kugeln für die Flinte hattest – was wurde denn nun aus dir und dem sechsten Löwen?“
Der Angesprochene, der die Geschichte eigentlich schon wieder vergessen hatte, reagierte mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit: „Der sechste Löwe? – ähhh - der hat mich aufgefressen.“ Alle wollten sich ausschütten vor Lachen. „Aber mein Lieber“ sagte der, der ihn gefragt hatte, „das kann ja nun schlecht sein, du bist doch am Leben und sitzt hier ganz wohlbehalten unter uns.“
Der Erzähler stutzte, aber es dauerte nur eine Sekunde, dann warf er dramatisch die Arme in die Höhe, und es brach aus ihm hervor : „Ich? am Leben? Ja, glaubt ihr vielleicht, das ist ein Leben, was ich führe?"
_________________ bye, bye, my I
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