Ottis Forum

Lyrik, Prosa, Fotografie und Gedankengut.
Aktuelle Zeit: Do 28. Mär 2024, 14:21

Alle Zeiten sind UTC + 1 Stunde




Ein neues Thema erstellen Auf das Thema antworten  [ 5 Beiträge ] 
Autor Nachricht
 Betreff des Beitrags: Der Ring
BeitragVerfasst: Sa 10. Mai 2008, 11:06 
Offline

Registriert: Do 25. Mai 2006, 22:30
Beiträge: 846
Wohnort: 75239 Eisingen

Der Ring

Wenn sich die ersten Sonnenstrahlen durch die grünen Gardinen in ihr Zimmer einschmuggeln, meistens ist es in dieser Jahreszeit gegen 7 Uhr am Morgen, dann ist ihre erste Tat, nachdem ihr die Sonne die Nase gekitzelt hat und ihr durch Blinzeln bewusst wird: „Ein neuer Tag ist geboren“, die Augen zu öffnen und den Ring zu sehen, den sie seit fast vier Jahren besitzt und noch nie außerhalb ihres Zimmers getragen hat. Den Ring, den sie so liebt und zu ihrem Glücksbringer ernannt hat, ist so geformt, dass man meinen könnte, eine klitzekleine Hand hält in ihrer Mitte eine Perle fest. Die Perle ist sie, weil sie genau wie dieser Schmuckstein keine Chance hat, das zu leben, was sie nur im Traum immer und immer wieder erlebt.

Sie steht auf, geht ins Bad, und, bevor sie die Türe schließt, kommt wieder der Ring in ihr Blickfeld, und wenn die Nacht zuvor wieder so eine Nacht war, in der sie nur wenig Schlaf finden konnte, dann bemerkt sie, wie die eine oder andere Träne selbständig ihren wunderschönen Augen entrinnt.
Wenn diese Tränen Waffen wären, würde sie die Geister, die sie Nacht um Nacht besuchen, verjagen. Wenn diese Tränen Waffen wären, dann würde sie zum Kreuzzug gegen die Emotionen antreten, die ihr das Leben zum Gefängnis machen.

Sie ist gerade fünfundzwanzig Jahre jung und von Natur aus ein lebensfrohes Wesen. Wenn man mit ihr ins Gespräch kommt, verfällt man sofort ihrer Leichtigkeit, ihrem Charme, der einem die Lust am Leben vermittelt. Man sucht ihre Nähe und fühlt sich verstanden und willkommen. Nach außen hin ist sie die Powerfrau, die nichts und niemanden fürchtet, die gegen Windmühlen wie gegen Börsenhaie reitet, die die Attribute der drei Musketiere und die Kraft der Amazonen hat. Nach außen hin ist sie die Jungfer mit dem Lächeln der Mona Lisa. Sie ist Marie Antoinette und Königin Victoria. Sie ist die Kämpferin vom Status einer Lara Croft und hat die Durchschlagskraft eines John Rambo. Dann schwebt sie, wenn sie geht, über ein Meer von Blumen und hat die Gestalt einer Fee wie aus Peter Pan. Im nächsten Augenblick die starke Person, die über Leichen geht. Bevor sie sich jedoch in die Außenwelt begibt, ist sie die Zerbrechliche, die Zarte, eine feinfühlige Frau, die durch den Anblick eines Ringes in Sentimentalität verfällt und übernatürliche Kämpfe mit sich austrägt, um sich der Außenwelt darreichen zu können.

Sie arbeitet im vierten Jahr für einen internationalen Konzern. Die belgische Europazentrale suchte 2004 in Frankfurt nach Verstärkung, und allein aufgrund der Tatsache, dass sie mehrere Sprachen fließend spricht, bekam sie die Stelle. Neben ihrer Muttersprache spricht sie deutsch, englisch und spanisch. Es war ihr nicht leicht gefallen das Unternehmen zu verlassen, das ihr erst die Ausbildung und dann 18 Monate angenehme und erfolgreiche Arbeit ermöglichte. Sie war der Augapfel des Geschäftsführers, und als dieser nach Jahrzehnten das Unternehmen altershalber verließ, ging auch sie, und hatte das nötige Glück, eine für sie fast wie auf den Leib geschnittene Arbeitsstelle zu finden.

Sie ist Moslemin. Für die muslimische Frau ist die Heirat mit einem Mann, der nicht an den Islam glaubt, nicht gestattet. Wer an Allah glaubt, versucht sich an seine Gebote zu halten. Die einzige Möglichkeit, dass die Ehe dennoch zustande kommt, ist die, dass der Nichtmuslim zum Islam konvertiert.
Sie wohnt noch bei Ihren Eltern, und obwohl sie bereits fünfundzwanzig ist, ist sie verpflichtet, jeden ihrer Schritte mit ihren Eltern abzustimmen. Sie hat hervorragende, fürsorgliche Eltern. Sie hat Eltern, die ihr alles, was einer Moslemin erlaubt ist, erlauben und man hat sie immer unterstützt. Sie selber fühlt sich auch durch die Tatsache, dass sie sich ständig erklären muss, nicht in ihrer Würde und ihrem Freiraum beengt, sie kennt nichts anderes. Die Bestimmung, als Jungfrau in die Ehe zu gehen, war für sie das erste Gebot.

In dieser Firma nun traf sie Jose. Jose, gebürtiger Spanier, 28 Jahre alt, war der Typ Mann, der ihr gefallen konnte. Groß, dunkelhaarig, keine breiten Schultern und trotzdem vom Körperbau eines Athleten. Jose arbeitete als EDV – Spezialist, und sie hatte gleich am ersten Tag die Freude seine Bekanntschaft zu machen. Wiederum am ersten Tag, ihr wurde die Firma genauer vorgestellt, traf sie ihn wieder im Casino, als sie bei einer Tasse Kaffee nach ihren ersten Eindrücken gefragt wurde. Die Erinnerungen an diesen ersten Tag blieben lange lebendig und als exakt ein Jahr darauf Jose sie zum Mittagessen ist Casino abholte, hatte sie genau ein Jahr im Unternehmen verbracht und kannte ihren Begleiter, der längst zu ihrer heimlichen Liebe geworden ist, genau so lang. Als er sie an ihren Arbeitsplatz zurück begleitete, bat er sie, eine Minute zu warten, um kurz darauf mit einem kleinen Etwas zu kommen.
„Zum Zeichen meiner Freundschaft“, sagte er und übergab ihr das kleine Päckchen. „Öffne es später“, sagte er noch und ging zurück, da in dieser Sekunde sein Handy klingelte und er auf dem Display die Nummer seiner Abteilung las.

Am Abend hatte sie, nachdem sie sich von ihren Eltern, die eine Videocassette aus ihrer Heimat ansahen, verabschiedete und in ihr Zimmer ging, das Päckchen noch nicht geöffnet. Sie stellte es auf ihren kleinen Nachttisch. Sie ging ins Bad und bevor sie die Türe schloss, kam dieses Päckchen in ihr Blickfeld. Sie rannte zurück, und öffnete hastig das Geschenk, um darin ein kleines Schreiben und exakt diesen Ring zu finden, der zum Symbol ihres Schmerzes geworden ist.
Überwältigt von der Schönheit konnte sie ihren Blick nicht abwenden. Aus dem Wohnzimmer hörte sie, wie ihre Eltern lachten. Dann faltete sie das Blatt auf, um einige wenige Sätze zu lesen:
„Ich weiß, wer du bist, und ich weiß, wer ich bin. Ich weiß, wie du denkst und fühlst, und ich weiß, was ich will. Du willst ehrenvoll sein und möchtest auf keinen Fall die Ehre deiner Eltern und die Gesetze, die eure Religion hat, missachten. Ich weiß, dass ich jetzt 28 Jahre alt bin, alt genug, um entscheiden zu können, alt genug, um zu wissen, wo mein Weg hinführt. Mein Weg kann nur ein gemeinsamer Weg mit dir sein. Ich weiß, welche Schwierigkeiten kommen können. Ich bin überzeugt, dass massive Hindernisse uns im Weg stehen werden. Ich weiß auch, dass, wenn du es willst und wenn ich es will, diese Hindernisse lediglich Sandkörner auf unserem Weg sein werden. Unpersönlich aber mit aller Liebe, die ich habe, möchte ich dich bitten, meine Frau zu werden.“

Die Nacht war unruhig. Draußen hatte es begonnen zu regnen. Einige Regentropfen klopften an ihr Fenster und als der Schlaf die Oberhand bekam, hatte bereits der Morgen begonnen. Das Morgenrot wurde sichtbar. Es war Wochenende und sie hatte einige Stunden Zeit, eine Antwort für ihn auszudenken. Doch welche Antwort?

Als sie am Montag ins Unternehmen kam, erfuhr sie genau so zufällig, wie man erfährt, dass die Fahrstühle blockiert sind, dass Jose in die Madrider Filiale gewechselt hat. Seinem Wunsch auf Versetzung wurde kurzfristig zugestimmt. In ihrem Email Postfach fand sie sieben neue Nachrichten. Eine davon war von ihm. „Sorry, ich weiß, dass ich feige bin. Bitte verzeih mir. Eines solltest du jedoch wissen, dass ich alles, was in meinem Brief steht, der Wahrheit entspricht. Die Tatsache, dass ich jetzt in Madrid bin, beeinträchtigt nicht meine Gefühle und Empfindungen. Mein Aufenthalt hier ist unbedeutend und ich freue mich sehr, dich bald wieder in meiner Nähe zu wissen. Lass dir Zeit mit deiner Antwort, aber bitte antworte mir.“

Es verging einige Zeit, in der sie sich der Gleich-gültigkeit verschrieb. Sie hatte einen Hauch von Hoffnung, die sie jedoch sofort wieder erstickte. Er schrieb ihr in den darauffolgenden Wochen mehrere Mails, die sie nicht beantwortete. Sie lebte in einer Zwischenwelt und konnte sich nicht zwischen Licht und Schatten entscheiden, wobei sie nicht wusste, was Licht und Schatten ist. In ihrem Herzen und ihrem Verstand spielten sich unbarmherzige Kämpfe ab. Sie wusste, dass die Zeit für einen Wendepunkt gekommen war. Einige Monate vergingen. Jose schrieb ihr in regelmäßigen Abständen, drei Mal hatten sie sogar miteinander telefoniert, aber sie war nicht in der Lage, sie hatte nicht die Kraft, ihm seine Frage zu beantworten.

Am 17. Mai sollte das jährliche Europa-Meeting in Frankfurt stattfinden. Er schrieb ihr lediglich, dass er zu dem Treffen nicht kommen könne. Kein besonderes Bedauern darüber, eine emotionslose Absage. Sie dagegen hatte sich ganz fest vorgenommen, ihm ihre Liebe zu bekennen, zu bekunden, dass sie während dieser letzten drei Jahre nur auf diesen Tag gewartet hatte. Sie wollte ihm sagen, dass es keine Grenzen mehr geben würde. Keine Grenzmarken der Religion, keine Schranken der Familie, keine Grenzmarken der Moral. „Ich bin dein“, wollte sie ihm sagen. „Schau auf meine Hand. Erkennst du den Ring? Ich trage ihn heute zum ersten Mal, da ich dir heute und jetzt von ganzem Herzen, ein <Ja> sagen möchte.“

Der 17. Mai kam, und sie erfuhr, dass sein Fern-bleiben mit der Geschäftsleitung abgesprochen war, da er sich gerade auf seiner Hochzeitsreise befand. Sie suchte Trost in der Einsamkeit und verschloss sich in der Isolation.
Es kam ihr gerade recht, dass sie eine Urlaubswoche eingeplant hatte. In dieser Woche musste sie sich wieder finden. Musste sie erkennen, dass die Bande der Liebe im Reich des Schicksals geschnürt werden. Sie hatte die Schlacht verloren, sie nahm sich vor den Kampf jedoch aufzunehmen. Sie gab sich vier Wochen Zeit. In diesen vier Wochen wollte sie sich entscheiden, ob sie weiterhin in den ihr gegebenen Gesetzrichtlinien leben wollte, sie favorisierte dieses Leben, oder sich jetzt in die Fluten werfen, sich auch mal treiben lassen sollte, sich fallen lassen, um wieder aufstehen zu können. Auf den Tag genau nach vier Wochen - so hat sie es sich vorgenommen - wird das Leben, ihr Leben so weiter gehen, oder es gibt einen Bruch und einen Neuanfang, den sie schon oft geistig durchgespielt hatte.

Sie betrachtete den Ring, der Ring, den sie immer noch nie angehabt hatte, und streifte ihn vorsichtig über ihren Finger. Draußen hatte der Regen wieder einmal die Sonne verdunkelt. Mit aller Vorsicht und Behutsamkeit zog sie den Ring an, und als er auf dem Finger saß, verdeckte sie ihre linke Hand mit der rechten, als wollte sie die Tatsache verstecken, als wollte sie den Schmuck ihrer Finger unsichtbar machen. Sie zog ganz sacht ihre Hand weg und betrachtete den Ring, der ihrer Hand eine besondere Weihe verlieh. Sie schloss die Augen und spürte eine unsichtbare Kraft in ihr. Als sie ihr Fenster öffnete, hatte der Regen etwas nachgelassen. Ganz vorsichtig stahlen sich einige Sonnenstrahlen hervor. Auf der Straße begann die Geschäftigkeit. Die Menschen beeilten sich und als ein Hauch von Wind ihre Wange streifte, erlöste sie ihre Lunge mit dem Schrei: „Welt ich komme!“


Nach oben
 Profil  
 
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: Sa 10. Mai 2008, 11:45 
Offline
Benutzeravatar

Registriert: Do 7. Sep 2006, 07:58
Beiträge: 6818
Wohnort: Dorf bei Gummersbach

eine Geschichte, die unter ihrem ruhigen Ton Erschütterungen und Umbrüche birgt smiley_52:

_________________
Auf zu neuen Ufern
Homepage - täglichBLOG - PodCast


Nach oben
 Profil  
 
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: Sa 10. Mai 2008, 12:42 
Offline
Site Admin
Benutzeravatar

Registriert: Sa 11. Jun 2005, 17:20
Beiträge: 20865
Wohnort: Schweden

Traveller hat geschrieben:
eine Geschichte, die unter ihrem ruhigen Ton Erschütterungen und Umbrüche birgt smiley_52:


smiley_86:

_________________
bye, bye, my I


Nach oben
 Profil  
 
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: Sa 10. Mai 2008, 12:49 

Wow!
Ein Ausflug in eine andere Welt.
Und doch gleich mit unserem Empfinden.
Erschütternd schön.


Nach oben
  
 
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: Sa 10. Mai 2008, 16:31 
Offline
Benutzeravatar

Registriert: Mo 20. Aug 2007, 11:48
Beiträge: 9109
Wohnort: ehemaliges Fürstentum Lippe

eine erschütternde geschichte.
wie oft ist sie in unserer ach so offenen welt realität?

_________________
jedes nicht festgehaltene wort ist ein verlorenes wort - schreiben gegen die zeit, die noch bleibt ©mbpk


Nach oben
 Profil  
 
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:  Sortiere nach  
Ein neues Thema erstellen Auf das Thema antworten  [ 5 Beiträge ] 

Alle Zeiten sind UTC + 1 Stunde


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 12 Gäste


Du darfst keine neuen Themen in diesem Forum erstellen.
Du darfst keine Antworten zu Themen in diesem Forum erstellen.
Du darfst deine Beiträge in diesem Forum nicht ändern.
Du darfst deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du darfst keine Dateianhänge in diesem Forum erstellen.

Suche nach:
Gehe zu:  
cron
Powered by phpBB © 2000, 2002, 2005, 2007 phpBB Group
Deutsche Übersetzung durch phpBB.de