Verwünscht
"Ich glaube, ich gehe ein wie eine Primel, die man nicht gegossen hat."
Franka wischte mit dem Handrücken theatralisch über die Schweiß glänzende Stirn und ächzte.
"Primeln blühen nicht mehr im August. Du hast das falsche Bild erwischt."
Hanna lachte und schüttelte den Kopf über ihre Freundin. Sie trank einen Schluck Cappucino und sah auf die Menschen, die in leichter Sommerbekleidung durch die Stadt flanierten. "Endlich Sonne und Wärme nach dem ganzen Regen."
"Trotzdem. Ich sollte nach Nordnorwegen ziehen. Oder an den Südpol. Irgendwo hin, wo es nicht so furchtbar sommerlich ist. - Schnee wäre jetzt schön."
Franka schaute sehnsüchtig in den wolkenlosen Himmel über der Stadt.
"Schnee?" Hanna glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. "Schnee im August? Sonst hast du keine Wünsche?"
"Doch, jede Menge. Aber für den Anfang würden mir ein paar Schneeflocken genügen."
Sie nahm drei Münzen aus ihrem Portemonnaie, legte ihre Hände ineinander und schüttelte sie, dass die Münzen darin klingelten.
"Ich wünsche mir, dass Flocken fallen wie in einer Schneekugel."
Eine winzige, graue Wolke erschien am heiteren Himmel hoch über der Fußgängerzone.
"Schau, da ist ja schon mein Schneelieferant", grinste Franka.
Ein weißes, federiges Etwas schwebte herab, landete auf dem Bistrotisch und verschwand. Hanna rieb sich die Augen, da segelte die nächste schmelzende Feder vorbei und noch eine und noch eine.
"Frau Holle schüttelt ihre Betten", lachte Franka und hob ihr Gesicht zum Himmel. Die Flocken landeten auf ihrer Stirn, der Nase, den Lippen. Sie leckte darüber, streckte die Zunge weit heraus und fing Frau Holles Federn ein.
Hanna nahm ihre Brille ab, putzte die Brillengläser mit einem Papiertaschentuch, schaute hindurch und nach oben.
Die Wolke wuchs, breitete sich aus und ließ immer mehr Schneeflocken hervorquellen.
"Wie der Breitopf im Märchen", dachte Hanna, "der überkocht und überkocht, bis die Welt im Grießbrei versinkt.
Den Bistrotisch überzog ein weiß glitzernder Flaum. Hanna streckte vorsichtig den Zeigefinger aus. Kühl fühlte es sich an, zerlief an der Fingerkuppe.
"Ich glaube das jetzt nicht", murmelte Hanna. "Das kann nicht sein. Wir haben August, Hochsommer."
Franka fing noch immer Schneeflocken mit ihrer Zunge und schien alles rundum zu vergessen. Ein Kind, das in seinem Spiel versunken ist.
"Lass das lieber", warnte Hanna. "Wer weiß, woher dieser Schnee kommt. Vielleicht ist das was Chemisches. Oder aus einem Flugzeug. Igitt."
Franka lachte wieder.
"Schmeckt süß, schmeckt wie der Schnee damals bei Oma in den Bergen."
Der Himmel war inzwischen zur Hälfte von Grau bedeckt, die Sonne verschwunden. Die Menschen an den anderen Tischen rieben sich die Arme und flüchteten in das Café. Die zurückgelassenen Tassen füllten sich schnell mit Himmelssahne.
"Ich kann zaubern!", jubelte Franka. "Ich bin eine Hexe!"
Hanna neigte zweifelnd ihren Kopf zur Seite.
"Das meinst du jetzt nicht ernst", stellte sie fest. "Es gibt eine Erklärung für das hier. Eine rationale Erklärung, garantiert."
"Spielverderber", schimpfte Franka. "Gönn mir doch den Glauben an meine Kräfte. Etwas bewirken, nur weil man sich das wünscht."
"Du freust dich und die anderen frieren. Die Welt kann sich doch nicht nur um dich und deine Wünsche drehen."
"Warum denn nicht? Wenigstens einen Tag lang. Ich wünsche mir, dass es 24 Stunden ununterbrochen schneit", rief Franka in beschwörendem Ton. Sie schüttelte die Münzen, die sie noch immer in Händen hielt, stand auf und tanzte davon.
*****
Die Straßen waren schon eine Hand breit mit Schnee bedeckt und immer noch fielen dicke Flocken aus einem tief hängenden Himmel. Autos krochen auf Sommerreifen im Schneckentempo vorwärts, Menschen rutschten und schlitterten über die Bürgersteige.
Mitten auf dem Marktplatz bauten Kinder einen riesigen Schneemann. Franka kaufte eine große Möhre und steckte sie ihm ins Gesicht. In ihren Sandalen glitt sie wie auf Schlittschuhen nach Hause. Gut, dass sie gleich um die Ecke wohnte, es war doch erbärmlich kalt geworden.
Mit einer großen Tasse dampfenden Kaffees machte es sich Franka im Sessel gemütlich. Von hier aus konnte sie die Straße vor dem Fenster überblicken und freute sich am Schneetreiben.
Sie musste eingenickt sein, denn als sie von Quietschen und Scheppern aufschreckte, dämmerte es bereits. Sie drückte sich aus dem weichen Polster hoch, um mehr von der Straße zu sehen. Das Telefon klingelte. Sie nahm das Funkteil auf, drückte die grüne Taste und ging zum Fenster zurück.
"Hallo, ich bin's", hörte sie Hannas Stimme. "Mach mal den Fernseher an, den Nachrichtensender, schnell."
Franka fummelte an der Fernbedienung, während sie Richtung Straßenecke schielte. Ein hellgrüner Kleinwagen hatte seine Motorhaube um den Laternenpfahl gefaltet. Der Fahrer kletterte gerade aus dem Auto, ein paar Fußgänger halfen ihm.
"... können sich die Meteorologen nicht erklären", tönte es aus dem Lautsprecher des Fernsehers. "Die Wolke, aus der diese Schneemassen fallen, breitet sich von Minute zu Minute mehr aus. Inzwischen ist eine Fläche von etwa hundert Quadratkilometern rund um die Stadt S. betroffen. Unzählige Unfälle haben sich ereignet, Bäume sind unter der ungewohnten Last zusammengebrochen, mehrere Menschen mussten in Krankenhäuser eingeliefert werden. Um diese Jahreszeit sind noch keine Streusalzvorräte angelegt, die Räumfahrzeuge können ihren Dienst nicht versehen. Die Behörden sind machtlos."
Franka ließ sich in den Sessel fallen.
"Schau, was du angerichtet hast", klang Hanna vorwurfsvoll aus dem Telefonhörer.
"Ich? Wieso ich? Bin ich etwa eine Hexe?"
"Hast du doch behauptet heute Mittag. Anscheinend hattest du Recht. Also tu etwas gegen dieses Chaos."
Franka starrte aus dem Fenster.
"Es soll aufhören zu schneien", flüsterte sie. "Verdammt, es soll endlich aufhören."
Die Flocken fielen weiter
"Hör auf damit!", schrie sie. "Nicht mehr schneien, nein, kein Schnee mehr!" Die Worte gingen in Schluchzen unter. "Das wollte ich doch nicht", murmelte sie und schluckte.
"Bist du noch da?" Hannas Stimme drang nur langsam zu Franka durch. "Los, Franka, sag was."
Franka drückte das Telefon an ihr Ohr und schniefte.
"Was?"
"Erinnere dich, Franka. Wie hast du den Schnee gerufen?"
"Ich habe ihn nicht gerufen. Ich wollte doch nur eine kleine Abkühlung."
Franka schloss die Augen. Sie dachte an die sommerliche Fußgängerzone, an den Bistrotisch mit den Kaffeetassen, an die Schweißperlen auf ihrer Haut. Die Münzen. Die Münzen waren der Schlüssel.
"Moment, Hanna, ich glaube, ich hab's."
Sie legte hastig das Telefon auf die Fensterbank, lief in den Flur und wühlte in ihrer Handtasche. Das Portemonnaie fiel zu Boden, sprang auf und Kleingeld rollte über die Fliesen. Franka grabschte nach drei Cent-Stücken, hetzte zurück ins Wohnzimmer.
Vor dem Fenster atmete sie tief durch, umschloss die Münzen sorgsam mit den Händen und schüttelte, bis sie klingelten.
"Ich wünsche mir, dass es aufhört zu schneien und dass der Schnee ganz schnell schmilzt."
Sie hielt den Atem an. Das Schneetreiben schien schwächer zu werden. Bildete sie sich ein, dass die Flocken schmolzen, bevor sie die Straße erreichten?
"Ich glaube, es funktioniert", rief Hanna erleichtert aus dem Telefon
Franka nahm den Hörer auf.
"Eins habe ich heute gelernt. Man sollte doch immer sehr genau auf seine Worte achten. Gute Nacht, Hanna."
*****
Aus den Nachrichten des folgenden Tages:
"Heftige Überschwemmungen in und um die Stadt S. gemeldet. Der Fluss K. trat in der Nacht über die Ufer. Zahlreiche Keller liefen voll, Autos wurden von den Fluten mitgerissen. Bisher gibt es noch keine Schätzung über die Schadenhöhe."
© U.L., August 2008
(die Idee und ein paar Zeilen dazu stammen aus dem Sommerurlaub)
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