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 Betreff des Beitrags: Schuhe fürs Leben
BeitragVerfasst: So 9. Nov 2008, 14:43 
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Schuhe fürs Leben

Heute sitzt er am Nachbartisch, wendet mir den Rücken zu. Er hält sich gerade, seine Schultern fallen nur wenig nach vorne. Sein Jacket wirft keine Falte. Maßarbeit.
Er trinkt den letzten Schluck Kaffee, setzt die Tasse mit leisem Klirren ab und lehnt sich ein wenig zurück, berührt kaum die Stuhllehne.

Ich beiße herzhaft in mein Schinken-Sandwich. Das Salatblatt rutscht heraus und fällt auf meine Hose. Die Mayonnaise lässt sich nicht abwischen, bleibt als fettiger Schatten. Nicht so schlimm, ist nur meine Arbeitshose, da ist schon einiges an Flecken versammelt. Vor allem Kleber und Schuhcreme. Für die Mittagspause ziehe ich mich schließlich nicht extra um. Mein Geschäft ist nur wenige Meter von diesem Bistro entfernt. Einmal über den Platz, dann steht man vor "Malkus - Schuhe fürs Leben". Mein Urgroßvater hat den Laden eröffnet. Damals ließen noch viele ihre Schuhe maßanfertigen. Heutzutage kann man davon nicht leben. Nicht hier. Zwei, drei Paar im Jahr, mehr ist nicht drin. Da verliert man fast die Übung.
Aber den Blick für handgefertigte Schuhe, den verliert man nie.

Und der alte Herr am Nachbartisch, der trägt Schuhe vom Feinsten. Schwarz, glänzend poliert, ein Derby passend zum dunklen Anzug.
Deshalb ist er mir vor zwei Tagen aufgefallen. Der schwarze Anzug und die eleganten Schuhe, das sieht man in unserem Städtchen selten. Statt dessen Handwerker in derben Arbeitsschuhen, Mütter in Sandalen, an der Hand kleine Kinder in bunten Halbschuhen, Jugendliche in Sneakers mit doppelt gebundenen Schnürsenkeln. Der Büromensch trägt sportliche Slipper in braun oder schwarz, die Fischer im Hafen Wasserfestes und die Urlauber alles, was bequem ist, ob's zur Kleidung passt oder nicht.
Ferienzeit ist seit ein paar Wochen vorbei, es ist ruhig geworden am Hafen, übersichtlich in den Straßen. Und ich kann wieder gemütlich in meinem Stammcafé ein Sandwich essen.

Seit drei Tagen trinkt der alte Herr mittags seinen Kaffee hier, ist schon zum Stammgast geworden. Die Kellnerin lächelt ihm zu, als er bezahlt, verabschiedet ihn mit einem freundlichen "Bis morgen dann." Er schüttelt den Kopf. "Mein letzter Tag", höre ich ihn leise sagen, dann steht er auf und geht.
Ich lege das Geld für mein Sandwich auf den Tisch, winke der Bedienung zu und folge ihm. Von Tag zu Tag bin ich neugieriger geworden. Was macht er hier am Meer in seinem dunklen Anzug und den edlen Schuhen? Jeden Tag gekleidet wie zu einem festlichen Anlass. Die Leichtigkeit der Touristen fehlt ihm. Sein Schritt wirkt müde, als er vor mir durch die Fußgängerzone geht. Hin und wieder bleibt er stehen, schaut an einer Fassade hinauf, schüttelt den Kopf und geht weiter. Die Geschäfte interessieren ihn nicht. Er sieht immer wieder suchend nach oben. Ein altes Kaufmannshaus mit Stuck geschmücktem Giebel lässt ihn mitten auf der Straße verharren. Das oberste Fenster hat seinen Blick angezogen. Er steht einfach da, lächelt und seufzt. Nach ein paar Minuten, in denen er die Menschen um sich herum nicht wahrzunehmen scheint, rempelt ihn eine Frau mit ihren Einkaufstaschen an. Er zuckt zusammen, zwinkert, als würde er aus dem Schlaf aufwachen und müsste den Fokus wieder auf die Tagwelt richten. Er entschuldigt sich ins Leere, denn die Frau ist bereits weitergeeilt, und setzt seine Wanderung durch die Straßen fort.
Ich schaue auf meine Uhr. Ich kann ihm nicht weiter folgen, meine Mittagspause ist zu Ende. Mit schnellen Schritten mache ich mich auf den Weg zum Geschäft.

*****

Feierabend. Donnerstag ist ein langer Arbeitstag. Der Laden bleibt bis zwanzig Uhr geöffnet, auch wenn kaum ein Kunde sich zu dieser Zeit hierher verirrt. Ich verbringe die letzten zwei Stunden meist in der Werkstatt mit Reparaturen. Absätze und Sohlen erneuern, kleben und nageln, Kanten schleifen, polieren. Wir haben keinen Schnelldienst im Ort, also kommen die Leute zu mir. Gut für's Geschäft. Aber jetzt ist Feierabend.
Ich pfeife und Hermann, mein Schnauzermischling, reckt sich, schüttelt sich und trottet zur Tür. Hermann heißt Hermann nach meinem Urgroßvater. Seine Ähnlichkeit mit der alten Fotografie im Laden ist verblüffend.

Hermann hat sich einen ausgiebigen Spaziergang verdient. Während ich abschließe, verspreche ich ihm, dass wir die große Runde laufen bis zum Hafen. Hermann liebt den Hafen mit seinen vielen Gerüchen, von denen ich nur einen winzigen Bruchteil wahrnehme. Jede Häuserecke, jedes Regenrohr scheint ihm spannende Geschichten zu erzählen. Möwen jagt er inzwischen nicht mehr, er weiß, dass sie zu schnell für ihn sind. Nur hin und wieder drängt ihn sein Instinkt zu einem halbherzigen Versuch.
Heute Abend trabt er entspannt neben mir durch die Gassen, hebt an einem Laternenpfahl sein Bein, schnuppert an den Mülltonnen, die am Straßenrand auf die Abfuhr am nächsten Tag warten.

In der Dämmerung gehen die Straßenlaternen an. Wir biegen nach links in die Segelmachergasse ein, die so schmal ist, dass kein Auto hindurch passt. Hinter Butzenscheiben leuchtet es warm. Hermanns Krallen klicken auf dem Kopfsteinpflaster. Ich rieche den Hafen, bevor ich ihn sehe. Salzige Luft mit einem Hauch von Tang.
Das Wasser gluckst zwischen den Booten, die in der Marina vor sich hin schaukeln. An den Masten sirren die Verspannungen leise, als wollten sie ein Schlaflied singen.
Hermann läuft einige Meter vor mir her, markiert die Poller an der Mauerkante des Hafenbeckens und macht sich auf den Weg zur Mole. Ich folge ihm gemächlich.

Die Mole umschließt in einem Bogen den Hafen. Auf der Seeseite schützt eine Mauer die Spaziergänger vor dem Wind. Ich liebe es, bis an die Spitze zu gehen und von dort aus aufs Wasser zu schauen. Im Dunkeln glitzert es wie ein Lamée-durchzogenes Tuch, strahlt majestätische Ruhe aus, die auch mich ruhig macht.
An der Stelle, wo die Mauer beginnt, hält Hermann an, senkt den Kopf und wedelt mit dem Schwanz. Er packt etwas mit dem Maul und apportiert einen schwarzen Schuh. Nein, nicht irgendeinen Schuh, einen glänzend polierten Derby.

Vorsichtig nehme ich dem Hund seine Beute ab. Ich kenne diesen Schuh, bin seinem Träger heute Mittag durch die Straßen gefolgt. Mit schnellen Schritten erreiche ich die Stelle, an der der zweite Schuh unberührt steht. Direkt an der Mauer, direkt neben der ausgetretenen Steintreppe, die zum Wasser hinunter führt. "Mein letzter Tag", hatte der alte Herr zu der Bedienung gesagt.
Ich schaue mich um, schaue die Mole entlang. Kein Mensch zu sehen. Ich taste mich die Steintreppe hinunter, das Licht der Straßenlampen wirft Schatten auf die Stufen. Unten trete ich auf weichen Sand. Rechts von mir lecken kleine Wellen an den Strand. Ich wende mich nach links. Meine Augen haben sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt und ich mache etwa hundert Meter entfernt einen hoch gewachsenen Mann aus, der mit aufgekrempelten Hosenbeinen ins Wasser watet.
"Halt! Stopp!", rufe ich ihm zu. "Tun Sie's nicht!"

Ich renne los. Rutsche im Sand bei jedem Schritt. Hermann überholt mich bellend. Der alte Herr bleibt stehen, dreht sich, um zu sehen, wer solch ein Spektakel macht. Ich erreiche ihn und keuche:
"Sie dürfen das nicht machen!"
Er schaut mich verständnislos an.
"Warum nicht? Alle waten durch's Wasser. Oder ist das im Dunkeln verboten?"
Verblüfft bleiben mir die nächsten Worte im Hals stecken. Ich schlucke.
"Wollten Sie nicht ..."
Er lächelt, versteht plötzlich und schüttelt den Kopf.
"Nein, ich wollte nicht."
Ich bin froh, dass er im Dunkeln nicht sehen kann, wie ich rot werde.
"Darf ich fragen, was Sie auf diese Idee gebracht hat?"
Ich stammele eine Erklärung, komme mir selten dämlich dabei vor und verstumme.
Er lächelt immer noch.
"Es muss Ihnen nicht peinlich sein", sagt er mit heiterer Stimme. "Im Gegenteil. Wenn sich nur mehr Leute Gedanken über ihre Mitmenschen machen würden."
Nach einer Pause, in der nur unser beider Atem zu hören ist, fährt er fort:
"Heute hätten meine Frau und ich Goldene Hochzeit gehabt. Wir wollten nochmal dorthin, wo wir die Flitterwochen verbracht hatten. Vor einem Jahr ist sie gestorben und ich musste alleine fahren."
Ich überlege, ob ich ihm mein Beileid aussprechen soll, doch er erzählt schon weiter.
"All diese Orte, all diese Erinnerungen haben mir gezeigt, dass ich nicht alleine bin. Ich bin mit ihr durch die Straßen gebummelt, habe mit ihr im Café gesessen und jetzt sind wir zusammen am Strand durchs Wasser gelaufen. Morgen werde ich nach Hause fahren. Und das Leben wird weitergehen."
Hermann stupst ihn mit der Schnauze in die Hand und der alte Herr krault meinen Hund hinter den Ohren. Dann wandern wir gemeinsam zurück zu der Steintreppe am Hafen.


© U.L., November 2008


heute habe ich diese Geschichte, die schon ein paar Wochen herumliegt, endlich zu Ende geschrieben; nur mit dem Titel bin ich noch nicht glücklich; habt ihr einen Vorschlag?

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Zuletzt geändert von Traveller am So 9. Nov 2008, 22:08, insgesamt 1-mal geändert.

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BeitragVerfasst: So 9. Nov 2008, 18:34 
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den text habe ich sehr gerne gelesen.
und den titel finde ich mehr als passend.

smiley_38:

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Lache, wenns zum weinen nicht reicht!


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dankeschön, Gerda

als ich vorhin die Geschichte Holger-Schatz vorgelesen habe, gefiel mir der Titel auch besser als im ersten Augenblick

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eine ganz tiefgehende geschichte mit viel, viel herz.
ich mag sie sehr!

und ja, der titel passt sehr gut.

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Lieben Gruß,
Kathrin smiley_1:

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dem wort anheim fallen...


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danke dir, Kathrin smiley_59:

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Das habe ich gerne gelesen, mir gefällt die ruhige Erzählweise, Uta.

Lieben Gruß

polli

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danke euch ganz lieb smiley_59:

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Claire.delalune hat geschrieben:
eine ganz tiefgehende geschichte mit viel, viel herz.
ich mag sie sehr!

und ja, der titel passt sehr gut.


ja... find ich auch....


smiley_86:

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eine wunderschöne geschichte, die ich gerne gelesen habe.
ich finde der titel passt!

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danke euch sehr smiley_59:

und der Titel bleibt !

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BeitragVerfasst: Mo 10. Nov 2008, 17:01 

Das war genau die richtige Feierabendlektüre für mich, Uta.
Sehr schön. Ich finde den Titel auch sehr passend.
Danke...
smiley_52:


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BeitragVerfasst: Mo 10. Nov 2008, 17:11 
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gern geschehen, Peter smiley_1:

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