Falsche Zeit für Spaziergänge
Ich musste verrückt sein. Als Frau marschiert man nicht in den späten Abendstunden alleine durch einen unbeleuchteten Park. Jeder weiß, dass das gefährlich ist. Dass hinter den Büschen Unholde nur darauf lauern, dich zu überfallen, um dir Unschuld oder Geld zu rauben. Exhibitionisten reißen ihre Mäntel auf und weiden sich an deinem Schrecken über ihre entblößten Genitalien. Ich glaube allerdings nicht, dass sich jemand gerade mich aussuchen würde: eine Frau um die Sechzig mit einem Lebendgewicht von gut 120 Kilogramm. Und ich bin sicher, ich würde schallend lachen, wenn so ein Kerl vor mir stünde. Die Situation wäre doch wirklich urkomisch, oder?
Verrückt oder nicht, ich wollte auf dem kürzesten Weg nach Hause. Ich war seit sechs Uhr früh auf den Beinen. Nach dem Besprechungsmarathon gestern bei einem Kunden - meine Agentur berät Firmen in Sicherheitsangelegenheiten - hatte ich ein Angebot vorbereitet und am Vormittag präsentiert. Der Kunde wollte sich die Geschichte überlegen, doch ich war mir sicher, ihn gewonnen zu haben. Dann mit dem Taxi zum Flughafen, ein Flug ausgefallen, der nächste überbucht. Stattdessen die Bahn genommen und mit erheblicher Verspätung endlich angekommen. Das ewige Sitzen hatte meine Beine anschwellen lassen. Ein strammer Spaziergang durch die Dämmerung war genau das Richtige. Ein Glück, dass ich nur mit leichtem Handgepäck reiste.
Vom Bahnhof war es nur ein Katzensprung bis zu der gepflegten Anlage, die den Stadtweiher umgab. Kieswege, Blumenrabatten, alte Trauerweiden. Am Hang auf der anderen Seite legten sich Terrassen übereinander, auf denen an Sonnentagen alte Damen auf den Bänken saßen und Tauben fütterten. Jetzt waren die Bänke leer und die Tauben schliefen in ihren Nachtquartieren. Ein Käuzchen durchbrach mit seinem heiseren Ruf die Stille.
Ich bin kein ängstlicher Mensch, aber ich gestehe, dass ich mich mehr als ein Mal umdrehte und lauschte. Und den Kopf schüttelte über mein albernes Verhalten.
Da hörte ich es. Ein schleifendes Geräusch. Ich blieb stehen und hörte es wieder. Ein Schaben und Reiben und - Schritte, langsame, schwere Schritte ein Stück vor mir auf der rechten Seite.
Ich hatte den Terrassenhang etwa zur Hälfte geschafft. Kurz vor mir musste der Weg liegen, der von den Jugendstilvillen in der Bismarckstraße quer durch den Park führte.
Das schleifende Geräusch kam näher. Ich duckte mich neben einer Bank hinter eine Steinputte mit Füllhorn. Lächerlich! Wie sollte der kleine Wicht mit seinen Marmorlocken mich verbergen können. Ich versuchte Schatten im Schatten zu werden.
"Mensch, heb ihn höher", zischte eine Stimme höchstens fünf Meter von mir entfernt. "Wir ziehen eine Spur wie eine Autobahn durch den Park."
"Meine Arme", stöhnte eine zweite Stimme. "Ich kann nicht mehr."
Ein dumpfes Plumpsen.
"Weiber ! Zu blöd zum Tragen."
"Wenn du keinen Scheiß gebaut hättest, wäre diese Aktion überflüssig."
Es folgte eine Reihe von unflätigen Schimpfworten - immer schön abwechselnd - bei der ich noch einiges lernen konnte. Ich duckte mich so tief es ging und atmete fast unhörbar in meinen Jackenärmel. Mir wurde kalt.
"Los, mach schon", kommandierte der Mann. "Ist nicht mehr weit."
Die Frau seufzte und schien ihre Last wieder anzupacken.
"Der ist so schwer", ächzte sie. "Ich schaffe das nicht."
"Du musst. Du bist schließlich Schuld, dass er hin ist."
"Jetzt bin ich das auch noch gewesen."
"Schnauze, hoch heben!"
Als die Schritte und das Schleifen sich entfernten und leiser wurden, wagte ich den Kopf zu heben. Die zwei zerrten und schleppten zwischen sich ein längliches Paket in Richtung Wasser. Eine Bildsequenz aus einem Fernsehkrimi huschte durch mein Hirn. Eine Leiche, eingewickelt und verschnürt, wurde mit Steinen beschwert in einem See versenkt.
Ich hatte drei Möglichkeiten.
Erstens: noch ein paar Minuten warten, dann auf direktem Weg ab nach Hause ins Warme. Das war die feige Möglichkeit.
Zweitens: das Handy zücken und die Kripo rufen. Das war die bequeme Möglichkeit, konnte allerdings peinlich werden, wenn es nicht um Mord und Totschlag ging.
Drittens: hinterher schleichen, um mehr zu erfahren. Meine Neugier siegte und ich bewegte mich wie eine 120-Kilo-Python durch den nächtlichen Park.
Die zwei hatten inzwischen das Ufer des Weihers erreicht und ihre Last erneut fallen gelassen. Während sie sich streckte und dabei die Hände in den Rücken drückte, versuchte der Kerl das Paket ins Wasser zu wälzen.
"Meinst du nicht, wir hätten einfach zugeben sollen, was passiert ist?"
"Spinnst du? Dann wäre alles aus gewesen. Die werden nichts merken, wenn diese Sauerei hier verschwunden ist."
Er wollte der schweren Rolle gerade einen kräftigen Stoß geben, der sie über die Uferkante befördert hätte, als ich es nicht mehr aushielt.
"Liegenlassen", donnerte ich. Mit der einen Hand umklammerte ich meine Taschenlampe, mit der anderen versuchte ich den Notruf auf dem Handy zu wählen.
"Bleibt wo ihr seid!"
Ich richtete die Lampe direkt auf ihre Augen, schwenkte von einem zum anderen. Geblendet zwinkerten sie, hielten die Hände vor ihre Gesichter, konnten aber nicht erkennen, wer sie da bei ihrem nächtlichen Treiben so unliebsam störte.
"Polizei? Hier spricht Sieglinde Breuer. Ich habe gerade im Park an der Bismarckstraße ein Paar gestellt, das etwas im Weiher versenken wollte. Ich vermute, es handelt sich um eine Leiche. - Nein, ich meine das sehr ernst."
Ich hoffte, dass man am anderen Ende der Leitung nicht an einen Scherz glaubte. Und ich hoffte, dass sie schnell kamen.
Was sollte ich machen, falls dieses feine Pärchen beschloss, auf mich loszugehen? Meine Handflächen wurden feucht und ich schluckte.
Die Frau fing zuerst an. Aus einem leisen Kichern wurde ein helles Lachen. Der Kerl fiel mit einem dröhnenden Bass ein und hielt sich dabei den Bauch.
"Was zum Teufel ist so komisch?", schrie ich die beiden an.
Die Frau holte Luft und zeigte auf das Paket am Boden.
"Leiche? Da drin?"
Wieder schüttelte sie ein Lachanfall.
"Mensch, das ist nur ein Stück Teppichboden."
Wollten die mich verarschen? Wer schleppt denn nachts in aller Heimlichkeit Teppichboden durch einen Park? Andererseits sind Leichen auch nicht unbedingt häufiger anzutreffen.
"Darf ich?" Die Frau bückte sich und schnitt mit einem Messer - woher hatte sie das jetzt so schnell geholt? - die Schnüre auf, die die Rolle zusammenhielten. Ein Stoß und ein graugrüner Teppichboden breitete sich auf der Wiese aus. In seiner Mitte nichts als ein riesiger, terrakottafarbener Fleck. Blut war das auf keinen Fall.
"Wandfarbe. Wir sollten in der Villa von Schwarzenbergs das Schlafzimmer renovieren, während die im Urlaub sind. Herbert hat den Farbeimer so blöd abgestellt, dass ich ihn umstoßen musste."
"Kannst ja auch nicht gucken, wohin du läufst. Jedenfalls haben wir den Boden ausgetauscht. Aber das versiffte Stück musste verschwinden. Wenn die Schwarzenbergs das beim Müll gefunden hätten, nicht auszudenken!"
Ich ließ die Taschenlampe sinken. In der Ferne hörte ich ein Martinshorn. Hätte ich doch vorhin bloß Möglichkeit Eins gewählt.
© U.L., Februar 2009
vorgegebene Wörter (aus dem Wörterbuch gepickt): Handgepäck, Dämmerung, Putte, wälzen, Messer
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Zuletzt geändert von Traveller am Di 10. Feb 2009, 11:34, insgesamt 1-mal geändert.
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