Der Nachruf
Er musste ihr nachgehen, er musste wissen was sie tat. Es könnte sein, dass sie etwas in Erwägung zog, die Sterne küsste womöglich. Alles war möglich. Sie bog um die Ecke. Leichten Schrittes wehte ihr tiefgrüner Mantel. Zwei Autos rauschten über die Kreuzung, erst dann konnte er ihr über die Straße folgen. Sie grüßte freundlich einen älteren Mann, hob ein Papierstück auf, warf es in die Mülltonne, dann betrat sie das Geschäft, kaufte Kartoffeln und Salat für den Abend. Er wartete noch eine Weile vor der Tür, bis sie an der Kasse stand, er sich sicher war, dass sie nunmehr nichts tun könnte, was ihm nicht zusagte. Er wusste, gleich wird sie seine Mutter besuchen. Das tat sie immer mittwochs. Er wusste auch, dass sie mit ihr eine Tasse Kaffee trank, bevor sie ihr im Haushalt half, dass sie ein Schwätzchen hielten - er wusste alles. Er machte sich also auf den Heimweg, bevor sie ihn bemerken würde, ging die Straße hinunter, etwas enttäuscht, dass sich seine Vermutungen wieder nicht bestätigten, betrat er die kleine Wohnung in der Bertelsstraße. Er zog seinen Mantel aus, legte den Hut auf die Flurgarderobe. Die Schuhe stellte er sorglich daneben. Dann sah er die Post durch. Rechnungen nichts weiter, keine Karte, kein Brief, nichts Aufregendes. Er nahm die Tageszeitung zur Hand und überflog die Schlagzeilen, blätterte um, hier und da hielt er inne. Als er bei den Todesanzeigen ankam, um zu wissen, ob in der Nachbarschaft vielleicht ein Trauerfall zu beklagen sei, las er: … Ich bedauere das unerwartete Ableben meines liebevollen Ehemannes Willfried Binder … ich werde dich vermissen … In Liebe und tiefer Trauer …. Die Beisetzung findet am 22.03. auf den Hauptfriedhof statt. Von Blumenspenden ist abzusehen. Er las die Annonce nochmal. Doch ja das war sein Name und der Name seiner Frau! Nein, das konnte nicht sein! Das war sicher ein Irrtum! Er las die Anzeige wiederum und fing gleichwohl an zu lachen: „Welch schlechter Scherz!“ Er beschloss sofort bei der Pressestelle in Erfahrung zu bringen, wer sich diesen Unsinn erlaubt hatte. Als er jedoch am Telefon die Stimme seiner Frau zu erkennen glaubte, die süßlich zur Antwort gab, dass das kein Irrtum sei und auch kein Scherz, legte er verwirrt den Hörer auf die Gabel.
Als sie am Abend heimkam, die Einkäufe in die Küche stellte, ihn da sitzen sah, in Gedanken, die Zeitung neben sich liegend, wusste sie was zu tun war.
Sie kam nie mehr zurück.
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