„Schluss für heute, die Damen!“, mit diesen Worten klatschte Fräulein Mittensee ein paar Mal in die Hände: „Wir sehen uns nächste Woche wieder!“ Das Training war zu Ende. Wir rannten aus dem Saal in die Umkleide. Beeilen mussten wir uns. Der Zug fuhr in ein paar Minuten. Es blieb keine Zeit für ein Schwätzchen über die neuen Tanzschritte, oder über das herrliche Dress von Kristine, gar keine, aber das beeindruckte weder Liese noch Babett. „Wir müssen!“, drängte ich und tippte auf meine nichtvorhandene Uhr. „Ja gleich.“ Sie kramten ihr Zeug in die Tasche und endlich waren sie fertig, jedoch zu spät. Als wir abgehetzt am Bahnhof ankamen, waren nur noch die roten Rückleuchten zu sehen, die im Dunkel langsam verschwanden. „Super!“, grummelte ich. „Fahren wir eben mit dem Bus.“, gab Babett zu verstehen. Gesagt, getan. Wir liefen zur Bushaltestelle, aber der Blick auf den Fahrplan war ernüchternd. Kein einziger Bus fuhr heute mehr. „Und nun?“, Liese schaute uns fragend an. „Laufen.“, meinte ich. „Laufen?“ Babett blickte mich an, als würde ich Wunder was von ihr verlangen. „Ja, was sonst!“, ich war sauer! Hätten sie mal nicht so gebummelt, säßen wir jetzt im mollig warmen Zug Richtung Heimat und würden in einer guten Stunde daheim am Abendbrottisch sitzen und genüsslich ins Brot beißen. „Ich rufe meinen Vati an!“, leierte Babett schnippisch und ging zur Telefonzelle. Babett war die einzige auf der ganzen Welt, die ich kannte, deren Eltern daheim ein Telefon hatten. Nun waren wir guter Hoffnung, denn so langsam wurde uns wirklich kalt und zu schneien hatte es auch wieder begonnen. Babett stand in der Telefonzelle und wählte. Und wählte wieder und nochmal, aber es nütze nichts. Die Leitung war tot. Also blieb uns nichts anderes übrig, als doch zu laufen. Zwanzig Kilometer bis nach Hause und das mitten in der Nacht, so kam es mir vor, denn es war mittlerweile stockdunkel. Der Wind blies eisig und wir wanderten auf verlassener Straße. Zu Anfang ließ es sich noch gut gehen, aber nach einer Weile musste ich mal und zwar dringend! „Können wir nicht bisschen schneller laufen?“, sprach ich zu den Beiden. Diese murrten mich nur an. Meinten was von müde und Füßen und Beinen, die weh täten vom Training. Eine Weile noch trottete ich neben ihnen her, aber meine Blase schlug einen schnelleren Schritt vor. Also lief ich voraus, rannte fast. „Was rennst du so?“, plärrte Babett. „Ich muss mal!“, schrie ich zurück. „Dann geh doch!“ Ja klar, gehen! Warum nur bin ich nicht selbst drauf gekommen! Für wie dämlich hält mich die Ziege eigentlich! Soll ich in den nachtschwarzen Wald schleichen, mich bis auf die Haut ausziehen, bei der Kälte?! Dieses blöde Dress! Warum hab ich es nicht ausgezogen? Dann wäre es ein Leichtes. Ab in die Büsche, Hose runter und fertig! Aber so stehen Pulli, Dress und Strumpfhose im Weg, alles musste runter! Alles nur nicht das! Ich lief schneller. Ich schaff das! Die längste Strecke hatte ich hinter mir. Es konnten höchstens noch sieben oder acht Kilometer sein. Was waren schon sieben Kilometer. Im Sport rannte man die in ein paar Minuten. Und überhaupt, man kann ja an was anderes denken, oder singen. Im Kindergarten hatte ich mal geschrien, als ich mal zur Toilette musste und nicht durfte. Beim Schreien ging der Druck weg. Vielleicht funktionierte das jetzt auch. Schreien ist nicht, das wäre peinlich, aber singen geht. Also sang ich: „Immer wieder Sonntags…“, mir fiel nichts Besseres ein. Zumal musste ich mal! Aber dieses Dress! Es ging nicht mehr zum Aushalten, nein, ganz und gar nicht, nein, nein, nein! Verdammt, wie weit war es denn noch?! Die nächste Kurve und dann sah man bestimmt schon erste Häuser. Ganz bestimmt. Dann war es nicht mehr weit. Dann nur noch einen Berg hoch und die Straße vor und dann noch einen Berg … Das schaffst du niemals! Nie! Selbst wenn du dir die Hände noch so fest zwischen die Beine klemmst und an sonst was denkst, von mir aus an den Kuss von Daniel, das ist nicht mehr zu bremsen! Ich kapituliere! Ab in die Büsche! Jetzt sofort! Beim Ansetzen zum Sprung über den Straßengraben, lief es mir warm den Beinen runter. Mist! Aber warm war es. Zumindest für einen Moment, dann nahm mich die Kälte wieder ein. Doppelt und Dreifach. Egal jetzt ist eh alles zu spät. Also zurück auf die Straße und einen Schritt langsamer. Nun musst du nicht mehr rennen. Jetzt merkte ich erst wie müd ich bin. Verdammt müde. Wie spät wird es sein? Einundzwanzig, zweiundzwanzig Uhr? Es schneite immer noch. Die Straße war Schneeverweht. Von weitem leuchtete wieder eine Laterne. Laterne für Laterne, dachte ich. Irgendwann ist jeder Weg zu Ende. Ich hab den Zug verpasst, werde ich sagen. Was konnte ich dafür? Babett und Liese hatten gebummelt. Ich bin früher daheim. Ich hab mich beeilt. Es wird keinen Ärger geben, glaube ich. Ein Auto kam. Das Licht fiel auf die Straße. Ein cremefarbener Wartburg hielt an. „Komm steig ein!“, Babetts Stimme hallte in mein Ohr. Ihr Vater hatte sie gesucht und gefunden. Ja klar steig ein und morgen lacht die ganze Schule, weil du in die Hose gepinkelt hast! Vergiss es! „Ich laufe.“, sagte ich. Das Auto fuhr weiter. Es war wieder dunkel, die Straße leer. Es konnte nicht mehr weit sein. Noch diese eine Kurve, dann sah man bestimmt die Lichter der Häuser.
Wenig später hielte noch ein Wagen. Ich weiß nicht welcher, ich kannte auch den Mann am Steuer nicht, der fragte, wohin ich denn wollte so spät noch. Ich hörte Mutter sagen: „Steig nicht in fremde Autos. Geh nicht mit Fremden mit.“ Ich bin eingestiegen. Sollte er von mir aus erzählen, dass er ein hungriges, müdes, stinkendes Mädchen nach Hause gefahren hat, mir war es gleich. Er war mir fremd.
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