Suizid?
Den ganzen Tag hatte sie darauf gewartet, dass es ihr besser ginge. In ihrem kleinen kargen Zimmer saß sie auf einem schmalen Bett. Das Zimmer erinnerte an eine Mönchszelle im Kloster. Die Wände waren weiß und kahl. Ein kleines Fenster öffnete seinen Blick auf einen tristen Hinterhof. Der Himmel war verhangen, ließ kaum das Tageslicht hindurch. Es regnete seit Tagen ohne Unterlass.
Die schmale zierliche Frau im schwarzen Gewand hatte im Sitzen die Knie an das Kinn gezogen. Die Arme hielten die Beine umschlungen. Das Gesicht war lang und von Schmerz und tiefer Traurigkeit gezeichnet. Der ernste Mund war fest verschlossen, die Stirn in Falten gezogen. Die Augen schienen nicht mehr nach außen zu sehen, der Blick nach innen gekehrt.
Sie war mager, hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, bekam kaum einen Schluck Wasser hinunter. Jeder Schluck und jeder Bissen verursachte ihr Übelkeit.
Im ganzen Körper spürte sie die Angst hervorbrechen, die nicht auf sich warten lassen würde. Ständig wiederkehrend liefen Kindheitserinnerungen grausam und unerbittlich wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab.
Sie spürte die Panik, das Gefühl, den Mund bis zum Anschlag gefüllt zu haben. Es nahm ihr den Atem. In der Nacht kroch aus der Zimmerecke etwas von hinten auf sie zu, packte sie an der Gurgel, würgte sie. Die bloße Angst vor diesen immerwiederkehrenden Albträumen ließ sie all ihre restliche Energie darauf verwenden, nicht einzuschlafen. Auf keinen Fall durfte sie einschlafen.
In den letzten siebzehn Jahren hatte sie versucht, ein normales Leben zu führen. Nach dem sie den Ausbruch aus ihrem Elternhaus gewaltsam geschafft hatte, lebte sie eine Weile allein. Niemand belästigte sie, niemand wollte etwas von ihr. Um niemanden musste sie sich kümmern. Wenn sie sich so erinnerte, war das die schönste Zeit in ihrem Leben gewesen. Dann hatte sie geheiratet und zwei Kinder geboren, hatte versucht Normalität zu leben. Die Kinder waren inzwischen im Teenageralter.
Der Versuch, normal zu leben, war schon lange gescheitert. Ohne inneren Bezug versorgte sie ihre Familie notdürftig, brach nach und nach alle Beziehungen zu den wenigen Menschen in ihrer Nähe ab. Mit ihrem Mann teilte sie schon lange keinen Schlafraum mehr, lebte neben ihm her. Die Kinder, davon war sie überzeugt, würden ohne sie zurechtkommen.
Sie registrierte wohl, dass ihr Sohn jeden Morgen zu ihr kam und ihre Nähe suchte. Er hat auch schon bemerkt, dass ihre Knochen zunehmend hervorstanden. Sie, die Körperkontakte verabscheute und nicht mehr zulassen wollte, fürchtete diese Augenblicke des Berührens. Alles in ihr wehrte sich dagegen, aber er war ja ihr Sohn.
Ihren Körper hasste sie, wollte sich von ihm befreien. Seit Monaten reifte ein Entschluss in ihr. Sie musste es selber tun. Es gab keinen Grund zu warten. Sie wollte es endlich hinter sich bringen.
Kein Lichtstreifen am Horizont war zu sehen. Nichts gab es sonst noch zu tun. Die Gedanken wurden immer zwingender, ließen keinen Raum für anderes mehr. Im Grunde hatte sie sich schon von allen Fesseln befreit. Nur eine war noch vorhanden. Es gab nichts anderes mehr, was sie tun wollte.
Sie hat einen Plan: Am nächsten Wochenende wird sie ihn ausführen. Sie will sich vorsichtshalber in einem Kloster anmelden, denn irgend etwas muss sie ihrer Familie erzählen. Niemand kennt sie dort. Keiner wird sich die Mühe machen herauszufinden, warum der angemeldete Gast nicht erscheint, denn im Kloster wird sie nicht ankommen. Das Kloster liegt geschützt und einsam in einem Wald. Dieser Wald ist ihr Ziel.
Sie spricht sich Mut zu. Die Sehnsucht nach Stille, Ruhe und Ausgelöschtsein ist unglaublich stark.
Sie wird sich von ihrem Körper befreien.
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