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 Betreff des Beitrags: Suizid?
BeitragVerfasst: Mo 30. Jun 2003, 20:22 

Suizid?


Den ganzen Tag hatte sie darauf gewartet, dass es ihr besser ginge.
In ihrem kleinen kargen Zimmer saß sie auf einem schmalen Bett.
Das Zimmer erinnerte an eine Mönchszelle im Kloster. Die Wände waren weiß und kahl. Ein kleines Fenster öffnete seinen Blick auf einen tristen Hinterhof. Der Himmel war verhangen, ließ kaum das Tageslicht hindurch. Es regnete seit Tagen ohne Unterlass.

Die schmale zierliche Frau im schwarzen Gewand hatte im Sitzen die Knie an das Kinn gezogen. Die Arme hielten die Beine umschlungen. Das Gesicht war lang und von Schmerz und tiefer Traurigkeit gezeichnet. Der ernste Mund war fest verschlossen, die Stirn in Falten gezogen. Die Augen schienen nicht mehr nach außen zu sehen, der Blick nach innen gekehrt.

Sie war mager, hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, bekam kaum einen Schluck Wasser hinunter. Jeder Schluck und jeder Bissen verursachte ihr Übelkeit.

Im ganzen Körper spürte sie die Angst hervorbrechen, die nicht auf sich warten lassen würde. Ständig wiederkehrend liefen Kindheitserinnerungen grausam und unerbittlich wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab.

Sie spürte die Panik, das Gefühl, den Mund bis zum Anschlag gefüllt zu haben. Es nahm ihr den Atem. In der Nacht kroch aus der Zimmerecke etwas von hinten auf sie zu, packte sie an der Gurgel, würgte sie.
Die bloße Angst vor diesen immerwiederkehrenden Albträumen ließ sie all ihre restliche Energie darauf verwenden, nicht einzuschlafen. Auf keinen Fall durfte sie einschlafen.

In den letzten siebzehn Jahren hatte sie versucht, ein normales Leben zu führen. Nach dem sie den Ausbruch aus ihrem Elternhaus gewaltsam geschafft hatte, lebte sie eine Weile allein. Niemand belästigte sie, niemand wollte etwas von ihr. Um niemanden musste sie sich kümmern. Wenn sie sich so erinnerte, war das die schönste Zeit in ihrem Leben gewesen. Dann hatte sie geheiratet und zwei Kinder geboren, hatte versucht Normalität zu leben. Die Kinder waren inzwischen im Teenageralter.

Der Versuch, normal zu leben, war schon lange gescheitert. Ohne inneren Bezug versorgte sie ihre Familie notdürftig, brach nach und nach alle Beziehungen zu den wenigen Menschen in ihrer Nähe ab. Mit ihrem Mann teilte sie schon lange keinen Schlafraum mehr, lebte neben ihm her. Die Kinder, davon war sie überzeugt, würden ohne sie zurechtkommen.

Sie registrierte wohl, dass ihr Sohn jeden Morgen zu ihr kam und ihre Nähe suchte. Er hat auch schon bemerkt, dass ihre Knochen zunehmend hervorstanden. Sie, die Körperkontakte verabscheute und nicht mehr zulassen wollte, fürchtete diese Augenblicke des Berührens. Alles in ihr wehrte sich dagegen, aber er war ja ihr Sohn.

Ihren Körper hasste sie, wollte sich von ihm befreien. Seit Monaten reifte ein Entschluss in ihr. Sie musste es selber tun. Es gab keinen Grund zu warten. Sie wollte es endlich hinter sich bringen.

Kein Lichtstreifen am Horizont war zu sehen. Nichts gab es sonst noch zu tun. Die Gedanken wurden immer zwingender, ließen keinen Raum für anderes mehr.
Im Grunde hatte sie sich schon von allen Fesseln befreit. Nur eine war noch vorhanden. Es gab nichts anderes mehr, was sie tun wollte.

Sie hat einen Plan: Am nächsten Wochenende wird sie ihn ausführen. Sie will sich vorsichtshalber in einem Kloster anmelden, denn irgend etwas muss sie ihrer Familie erzählen. Niemand kennt sie dort. Keiner wird sich die Mühe machen herauszufinden, warum der angemeldete Gast nicht erscheint, denn im Kloster wird sie nicht ankommen.
Das Kloster liegt geschützt und einsam in einem Wald. Dieser Wald ist ihr Ziel.

Sie spricht sich Mut zu. Die Sehnsucht nach Stille, Ruhe und Ausgelöschtsein ist unglaublich stark.

Sie wird sich von ihrem Körper befreien.


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 Betreff des Beitrags: Re: Suizid?
BeitragVerfasst: Do 3. Jul 2003, 20:05 
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Registriert: Di 15. Apr 2003, 13:46
Beiträge: 23743
Wohnort: Wiesbaden

Während meines Drogenentzuges bekam ich die Aufgabe, die Bibliothek des Klinikums zu leiten. Ich lernte dort eine junge Frau kennen. Sie war wunderschön, scheu und zart wie eine Elfe. Sie lieh sich Bücher aus, Gedichtbände, und dadurch kamen wir ins Gespräch.
Strommasten. Es waren immer Strommasten, von denen sie sich stürzte. Beim letzten Mal war sie nur knapp mit dem Leben davon gekommen. Sie hatte wieder einmal Pech gehabt, waren ihre Worte. So oft sprachen wir über ihren Wunsch zu sterben. Diese Schwere, dieses des Lebens müde sein...Ich konnte sie nicht verstehen. Aber fühlen konnte ich, mitfühlen. Es war so, als würde sie das Leben umbringen. In einem Moment lachte sie, und im nächsten Augenblick brach sie zusammen. Sie war eine Seiltänzerin. Ihr Lebensseil war ein fast unsichtbarer Faden und die Abgründe, links und rechts, so tief und schwarz. Vielleicht war das Lebensseil auch ein Pfad in einem unwirklichen Tal, umgeben von riesigen Bergen, die kein Licht in sie dringen ließen. Ab und an denke ich, dass ich einen Teil ihrer Melancholie in mich aufgenommen habe. Ob sie etwas von meinem Licht aufnehmen konnte, weiß ich nicht.<br>

_________________
Der Kopf denkt weiter als man denkt.


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 Betreff des Beitrags: Re: Suizid?
BeitragVerfasst: Do 3. Jul 2003, 21:05 

Als ich jetzt gerade deine Worte gelesen habe, spürte ich wieder diesen dicken viel zu schweren Stein in meinem Bauch, aber ich spürte auch wie er seine Härte und Schwere verlor. Nach Weinen war mir zumute.

Dieser Suizidgeschichte liegt ein wahres Gespräch zugrunde. Ich habe schon öfter mit Menschen zu tun gehabt, die mit den Gedanken an Suizid spielten, aber in dieser Entschiedenheit hatte ich es bisher noch nie erlebt. Sie war schon so weit weg, sie nahm wohl noch die Wirklichkeit wahr aber aus einer ganz großen Distanz. Auch meine behutsamen Versuche, irgend etwas zu finden, was ihr wichtig genug sein könnte, um zu leben, erreichten sie nicht wirklich. So blieb mir nur noch, ihr ohnmächtig und hilflos mein mitfühlendes Ohr zu
leihen und den Schmerz mitzutragen. Ich habe oft an diese Frau gedacht und mich gefragt, ob sie diesen letzten Schritt getan hat, aber diese Frage bleibt wohl unbeantwortet.

Es hat mir sehr geholfen, aus diesem Gespräch eine Geschichte zu machen , aber sie wirkt nach, bringt auch die eigene Endlichkeit ins Spiel und die Fragen nach dem Sinn des Daseins.
Nicht nur diese Traurigkeit ist in mir, sondern auch Wut darüber, dass manche Menschen so schwer zu tragen haben, dass sie ihr Leben nicht mehr ertragen und die Bedingungen, die dazu geführt haben. Wie oft bleiben diese Menschen unghört, haben kein Medium, über dass sie sich mitteilen können. Und wie reich bin ich selbst, verfüge ich doch über so viele Möglichkeiten, meinen Gedanken Gehör zu verschaffen.

Ich danke dir von Herzen für deineWorte.

l.G. Dornrosis<br>


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