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 Betreff des Beitrags: Re: Kraushaar - der lange Weg
BeitragVerfasst: Mi 31. Mär 2004, 10:52 
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Endgültige Fassung.....

Der Abend war einer jener Abende, von denen man nichts erwartet, und die halten, was sie versprechen. Ich hatte mir sieben Becks reingeschüttet und wartete vergebens auf Erlösung. Kein Kick mehr, nichts. Im Fernseher lief irgendein Scheiß von Liebe und alles wird gut.
Absurd. Im Film schnippelt man die schlechten Szenen raus. Wenn es im Leben nur so einfach wäre. Was aber bliebe übrig, von dem bisschen Sein? Ein Atem nur, dachte ich für mich, als es am Fenster klopfte.
Nun, ich wohne unter dem Dach, und es klopft recht selten an meinem Fenster. Dementsprechend fuhr mir ein gehöriger Schrecken durch die Glieder. Im sechsten Stockwerk klopft es gewöhnlich an der Tür, weniger am Fenster.
Durch mein Mansardenfenster lächelte ein freundliches, jugendliches, wahrscheinlich etwas älter als sein Äußeres wirkendes Gesicht, in mein Wohnzimmer. Er bedeutete mir, mein Fenster zu öffnen, fasste sich mit seinen Händen um die Schultern und rieb daran, wohl um mir zu zeigen, dass er fror. Na ja….Es war wohl um den Gefrierpunkt dort draußen, nicht eben angenehm, wenn man bedenkt, dass der Kerl auf dem Dach nackt war.
Kennen Sie dieses Gefühl zwischen Ohnmacht und was bleibt mir anderes übrig? Also! Ich öffnete das Fenster und dieses freundliche, jungenhafte Gesicht lächelte mich an und fragte mich nach meiner Existenzberechtigung.
„Haben Sie eine Existenzberechtigung, Sie selbstbemitleidender Jammerlappen?“
Mit diesen Worten sprang er ins Zimmer und fühlte sich, so sah es zumindest aus, recht wohl.
Na ja…Er hüpfte von einem Bein zum Anderen und alles, ja wirklich alles, hüpfend, machte einen glücklichen Eindruck.
Meine Antwort muss wohl so was wie… „Hääää? Was meinen Sie? Wo kommen Sie eigentlich her, um diese Uhrzeit?“ …..Scheiße gewesen sein. Auf jeden Fall fand dieser Typ meine Antwort wohl ziemlich lustig und lachte sich einen ab.
Pause!………Können Sie sich das vorstellen?! Sie stehen in ihrem Wohnzimmer und werden von einem nackten Mann ausgelacht, der gerade über das Dachfenster in Ihre Wohnung eingestiegen ist. Nein, Sie können es sich nicht vorstellen…..Pause Ende!
Er lachte und antwortete nicht. Blickte sich neugierig im Zimmer um, wie ein neugeborenes Kind, das seine Welt erkundet.
Mittlerweile war ich von der Wirkung der sieben Becks überzeugt, und sprach mehr zu mir selbst: „Wow! Das ist echt ein geiler Wachtraum“, worauf dieser Typ antwortete:
„Der unumstößliche Beweis meiner Existenz ist die Leere in mir. Das Kosmoversum und ich sind Geschwister. Die leuchtenden Punkte dort oben sind Ausnahmen. Sie gleichen den wenigen hellen Flecken auf meinem Seelengrund.“
Er tanzte durchs Zimmer wie ein Fremdkörper, der seinen Standpunkt sucht, forschend, nach einem unsichtbaren Halt.
„Entschuldigen sie! Geht es Ihnen gut?“
„Die Erde ist eine riesige salzige Träne. Geweint von unzähligen Seelen in der tiefen, letzten Erkenntnis des Nichts, nach dem Sein in der Leere.“
„Ähm! Wie sind Sie denn auf das Dach gekommen? Haben sie Liebeskummer? Warum hüpfen sie so nervös umher? Kann ich Ihnen helfen? Wer sind sie eigentlich?“
Der Typ fing an zu lachen wie ein Erdbeben und gleichzeitig weinte er, wie ein Wasserfall.
„Kraushaar,“ sagte er.
„Kraushaar“?
„Kraushaar ist mein Name, Kraushaar!“
„Und weiter? Ich denke, da sie abends um 23Uhr nackt in meiner Wohnung stehen, könnten wir per Du sein.“
Kraushaar schaute mich fragend an, als habe er den Sinn meiner Worte nicht verstanden. Es schien, als müsse sein Gehirn den Satz Wort für Wort zerlegen um ihn auf seine Weise wieder zusammensetzen. Nach einiger Zeit machte es sichtbar Klick in seinem Gesicht und er antwortete:
„Kraushaar ist mein Name. Ich hatte mal einen anderen Namen, aber der war blöd. Jetzt bin ich Kraushaar.“
„Aha“, dachte ich mir, und wusste nicht so recht, wie ich das Gespräch wieder aufnehmen sollte. Kraushaar stand vor mir wie ein Hund, der darauf wartet, dass man ihm einen Knochen zuwirft.
„Du, Kraushaar, du wolltest mir doch sagen, warum du an mein Fenster geklopft hast, und auch, warum du nackt bist.“
Kraushaar fing den Knochen auf und SCHNAPP! Es dauerte eine Weile bis er die Worte abgenagt,deren Sinn geschmeckt und geschluckt hatte.
„Ich habe dich gesucht. Du siehst genau so einsam aus, wie ich mich fühle. Du weißt schon….Dunkel-Herz-Fühlen. Hast auch keine Existenzberechtigung. Meine Klamotten sind drüben in der Wohnung. Mir war so warm wie lange nicht. Sonst ist mir kalt. So kalt. Habe Jetzt muss ich gehen. Drüben ist die Musik an. Sie wird ohne meine Ohren ganz traurig. Vielleicht komme ich mal wieder vorbei.“
Ich war noch in seinen Worten gefangen und registrierte erst nicht, dass er durchs Fenster auf die Schräge des Daches geklettert war. Wahrscheinlich wäre er verschwunden, ohne dass ich es mitbekommen hätte. Doch er machte noch einmal kehrt und schaute zurück. Nachdenklich blickte er mich an und sagte:
„Weißt du, dass das Leben nicht wirklich ist?“
Daraufhin drehte er sich herum, und verschwand in der Dunkelheit. Ich rannte ans Fenster und beobachtete meinen ungebetenen nächtlichen Gast bei seinem Balanceakt. Kraushaar hatte Erfahrung mit Dächern, keine Frage. Zielsicher und akrobatisch sprang er über die dunklen Ziegel. Das Nachbarhaus schließt nahtlos an unser Haus. Kraushaar kletterte behände über die Brandmauer, die beide Häuser trennt und kletterte ins erste Dachfenster des anderen Gebäudes. Er schaute noch einmal zu mir hinüber und rief durch die Nacht:
„Schau dir die Sterne an, sie sind Ausnahmen!“
„Die Sterne sind Ausnahmen“, hallte es in meinen Ohren. Wieder und wieder. Musste erst ein Nackter über das Dach in meine Wohnung steigen, um mir die Wahrheit zu eröffnen? Seit Monaten, ach Quatsch, seit knapp zwei Jahren sah ich nur noch das Schwarz zwischen den Sternen. Und ja…Ich bedauerte mich zutiefst. „Helle Flecke auf dunklem Seelengrund“ hatte Kraushaar gesagt. Manchmal kommen die Flecke zum Vorschein, und mit ihnen Einnerungen, die mich überfluten, sämtliche Sterne auslöschen. Scheiß auf die Vergangenheit. Scheiß auf Kraushaar und die Sterne. Und auf dich erst recht!
Die nächsten Tage sah ich nichts von Kraushaar. Ich fragte eine Nachbarin nach ihm. Sie erzählte mir, dass er vor einem halben Jahr eingezogen sei. Ein ruhiger unauffälliger Mann, nur scheinbar ein wenig verrückt.
„Wenn man mit ihm spricht, erzählt er vom Weltall. Er sagt, die Sterne seien eine Täuschung und lauter so merkwürdige Dinge. Arbeiten tut er auch nicht. Aber es geht mich ja nichts an, womit die jungen Leute heute ihr Geld verdienen. Zu unserer Zeit ist man morgens aus dem Haus und abends müde heimgekehrt. Aber es geht mich ja nichts an, wie gesagt. Ein sympathischer Mensch so insgesamt…“
Die Alte bearbeitete meine Ohren und die Jugend von Heute noch eine Stunde und ich kehrte mit dem sicheren Wissen nach Hause, dass die Welt eine finstere Grube ist. So weit waren Kraushaar, die Alte und ich gar nicht voneinander entfernt.
Ich ging ans Fenster, öffnete es, blickte hinüber zu seinem. Es stand auch offen. Still lauschte ich hinüber und vernahm Musik. Sie klang nicht traurig. Anscheinend war Kraushaar daheim.

Etwa eine Woche später begegneten wir uns wieder. Ich lief im Wohnzimmer auf und ab, suchte das Vergessen im Bier Vergessen und fand es nicht. Gestern hatten sie mich rausgeschmissen. Egal! War eh ein beschissener Job. Verständnisloses Pack. Ach was! Auch sie werden eines Tages ihr Leben verlieren und weiter existieren müssen. Der Fernseher flimmerte stumm vor sich hin. Ich kann dieses Gelabere nicht ertragen. Aber ich brauche die bewegten Bilder. Dieses scheinbare Gefühl des Nicht-Allein-Seins. Fern-sehen halt. Dinge sehen, die weit weg sind. Irgendwo.
Ich lehnte an einer Wand und beobachtete eine Spinne bei ihrem senkrechten Lauf. In meinen Händen hielt ich ein Feuerzeug. Mit ihm änderte ich willkürlich die Laufrichtung des Achtbeiners und überlegte, ob ich sie nicht langsam und genüsslich zerquetschen sollte. Diese Herrschaft über Leben und Tod verlieh mir ein ungeahntes Hochgefühl.
Gerade als ich das hässliche Viech auslöschen wollte, klopfte es am Fenster. Kraushaar war da. Ich öffnete das Fenster und Kraushaar streckte den Kopf in die Wohnung. Er schien zu begutachten, ob alles seinen Wünschen entsprach. Mit einem Sprung landete er auf meiner Couch und lächelte mich an.
„Du wolltest wohl Gott spielen?“
Ein tiefes Wissen lag in der Betonung seiner Worte.
„Gott spielen? Was soll das heißen? Kommst hier reingeplatzt und stellst Behauptungen auf. Kein „Hallo“…nach meinem Namen hast du mich auch noch nicht gefragt. Meinst du etwa die Spinne? Ich habe ihr nichts getan! Was willst du eigentlich?“
„Ich will mit dir zusammen allein sein. Du hättest sie getötet, stimmt´s? Dein Gesicht hatte das Urteil schon gefällt. Ist nicht schlimm, musst nicht traurig sein. So ist das Leben. Merkwürdig halt und immer anders und traurig, voller Spuren.
Mann oh Mann. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Da saßen Freud und sein beklopptester Bekloppter in einer Person auf meiner Couch und referierten über meinen Geisteszustand.
„Wollt ihr meinen Namen wissen“, fragte ich die Beiden, im Hinterkopf genau der Gott, der Ihnen bei einer „Ja“ Antwort einen geistigen Tritt in den Hintern versetzen würde.
„Ja“, sagten sie, und ich drückte Ihnen meine Antwort tief ins Hirn.
„Mein Name ist Kraushaar“, triumphierte ich und musste mir das Lachen verkneifen.
„Das dachte ich mir“, kam es prompt, und mein ganzes legopsychologisches Haus brach zusammen.
Um nicht als vollkommener Trottel dazustehen, ergriff ich den letzten Gedankenstrohhalm…
„Du hast ja tatsächlich Klamotten“, worauf er in seiner unergründlichen Blick- und Worttiefe
flüsterte:
„Und du bist ganz schön nackt im Augenblick! Fast so unwirklich wie das Leben, hinter dem du dich versteckst.“
Dieser Typ glaubte doch tatsächlich, mich in die Enge treiben zu können.
„Ich habe mir deine Klingel angeschaut. Du hast ja doch einen Vornamen. Durchgestrichen ist er!“
Tränen traten in Kraushaars Augen, und ich spürte, dass jedes weitere Wort eine Sintflut auslösen würde.
„Einen Vornamen hat man, so lange man mit sich per Du ist. Ich habe mein Du verloren, damals. Jetzt ist alles aus Stein.“
Mit diesen Worten kletterte er aufs Dach und verschwand.


„Willst du ihm helfen?“
„Ich denke schon….Er kennt den Vogel aus Stein.“
„Ja…auf eine andere Weise.“


Die nächsten zwei Wochen verliefen ziemlich langweilig. Becks hatte seinen Kistenpreis um zwei Euro erhöht und in den Mittagstalks erfuhr ich, dass ich nicht allein bin. Da draußen gab es noch jede Menge Kaputtniks. Lauter abgefahrene Gehirnjunkies, die so hohle Gedanken hatten, dass sich eben diese Hohlheit geradezu epidemisch im Hirn breit machte.
Was mir wirklich Sorgen bereitete, war mein Sexualleben oder die Abwesenheit desselben. Es war nun schon fast vier Wochen her, und viel länger ging nicht. Es begann immer nach etwa zwei Wochen. Wellenartig spülten unkeusche, geile Gedanken in meine Hohlräume und füllten sie mit Lust aus. Hohlräume, mit Lust ausgefüllt, füllen mit der Zeit andere Räume. Ein stetiges Schwellen und verebben und stöhnen und spielen und hoffen auf Erfüllung. Meist endet diese Prozedur mit einem Gebet und Gott antwortete:
„Hallo mein Sohn, du geiler Hund. Worauf wartest du? Ruf sie endlich an. Du hältst es doch eh nicht aus.“
Das ist der Unterschied zwischen Gott und mir: Er kennt die Antworten, ich die Fragen.
Ich rief also an. Susanne, meine alte Freundin. Sie war Mitte 30, studierte im 1000sten Semester Jura und hatten absolut keinen Plan. Eher würde ich oberster Richter am Bundesverfassungsgericht werden, bevor sie Anwältin ist. Sprecherin der Armen wollte sie werden…Dabei war sie die Arme, im Grunde genommen, die sprach. Wir waren uns vollkommen gleich. In jeder Beziehung. Wir hassten uns, erkannten wir uns doch so deutlich im Ich des anderen.
Auch sie hatte ihre Zyklen. Heftige Zyklen. Ich stellte mir immer vor, wie sie, echt er Junkie, voll gepumpt mit diesen Botenstoffen, neben dem Telefon saß und meinen Anruf herbeisehnte.
„Ja, Susanne spricht! Ach, du bist es. Nein, passen tut es jetzt nicht so gut. Ich hänge über einer Klausur und überhaupt hatte ich heute Abend schon etwas anderes vor. Da spielt `ne Band im Old Daddy Saloon, sollen echt cool sein. Ach….Bier ist da. Na ja. Auf `ne Stunde vielleicht. Höchstens `ne Stunde. Wie gesagt, bin eigentlich schon verabredet. Na gut, weil du es bist. Bis gleich.“
Ihre Telefonstimme war zu diesem Zeitpunkt schon ein ekstatisches Flüstern. Susanne konnte so in ihrer Ekstase aufgehen, dass sie ganze Räume elektrisierte. Meine Räume waren elektrisiert.
Jura ist ein trockenes Fach und so kam Susi Q immer schnell zur Sache. Spätestens beim zweiten Bier lagen wir auf der Couch und teilten Nacht und Einsamkeit. Meine Dachwohnung war in Susannes Fall ein Segen. Während sie auf mir ritt schrie sie ständig und wiederholte laut und lauter Gesetzestexte und Paragraphen.

Pause…Ich weiß, was Sie sich fragen…..Doch mich konnte schon lange nichts mehr abturnen. Ich kannte das BGB in- und auswendig und auch vor den Gesetzen des europäischen Gerichtshofes war mir nicht bang…Pause Ende!

Mitten in dieser Paragraphenreiterei sprang sie plötzlich von mir herunter, deutete aufs Fenster und rief:
„Da steht ein Nackter auf dem Dach und beobachtet uns.“
Vor dem Fenster stand Kraushaar. Es war nicht zu übersehen, dass er Gefallen an unserem Treiben gefunden hatte. Mit einem tiefgründigen Lächeln blickte er ins Zimmer.
„Stör ich?“
Susanne stellte sich Schutz suchend hinter mich und ich machte mir einen Spaß daraus, zur Seite zu gehen. Sie schrie hysterisch, und an den Ruhestörungsparagraphen denkend, schrie ich zurück:
„Beruhige dich! Das ist Kraushaar, ein Bekannter. Er gehört fast zur Familie.“
Völlig entgeistert, fast gesetzlos, schaute mich Susanne an und geiferte:
„Dann können wir ihn ja einladen.“
Dass ich daraufhin erwiderte: “Wenn du magst“, brachte sie völlig aus der Verfassung.
„Kein Wunder, dass sie dich verlassen hat“ wütete sie, und meine Glut verging.
Kraushaar, immer noch sichtlich erregt, stand im Zimmer und versuchte zu ebben.
„Keine Angst. Ich will dich gar nicht.
Susanne schnappte ihre Klamotten und rannte Richtung Tür. Für ihren letzten Satz hatte sie noch etwas gut bei mir.
„So geht das aber nicht, liebe Susanne. Du verstößt gegen §183 des Strafgesetzbuches. Das ist Erregung öffentlichen Ärgernisses!“
„Leck mich, du Jammerlappen!“
Mit diesen Worten verließ sie wohl zum letzten Mal meine Wohnung. Na super! Aber ich hatte ja noch meinen Videorekorder und sollte es ganz beschissen laufen, häufig einen Nackten zu Besuch.
„Was ist nur in dich gefahren, Kraushaar. Hättest du nicht wenigstens warten können, bis ich fertig bin?“
Kraushaar hörte mich nicht. Er kletterte aufs Dach und setzte sich neben das Fenster. Ich nahm auf der Heizung Platz und beobachtete diesen merkwürdigen Menschen, der Anfangs Eindringling, mir nun immer mehr ans Herz wuchs.
Er saß dort draußen, und starrte ein Loch in den Weltenraum.
„Kannst du dich an die Spinne erinnern? In der Nacht, als du Gott gespielt hast!“
„Ja, ich erinnere mich.“
Kraushaar fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. Zeichnete mit seinen Fingern, spinnengleich, unsichtbare Netze in den nächtlichen Himmel. Dort oben, in der Dunkelheit, schienen sich seine Gedanken im Netz zu verfangen. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis er den Faden aufnehmen und Worte befreien konnte.
„Ich habe auch schon Gott gespielt. Die Engel hat es gefreut… Mich nicht! Mir blieb nur ein Vogel aus Stein. Mein Kopf hat sich verändert, damals. Er ist verwundet.“
„Ich werde aus deinen Worten nicht schlau, Kraushaar. Was versuchst du mir nur zu sagen?“
Seine Hände schienen das Netz aufzurollen. Vielleicht brauchte er später noch um Gedanken einzufangen oder als Schutz vor falschen Worten.
„Willst du mir von deinem Vogel aus Stein erzählen?“
„Du brauchst wohl keinen Namen für die Menschen, Herr, Mr., Sir Kraushaar. Interessiert dich denn gar nicht wie ich heiße? Und was soll das Geschwätz von diesem Vogel aus Stein?“
Mittlerweile hatte Mr. Kraushaar es sich auf dem Dach gemütlich gemacht. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, lag er nackt auf dem schrägen Dach und genoss die erste laue Frühlingsnacht.
„Ich werde dich nach deinem Namen fragen, wenn die blauen Pferde wieder reiten. Willst du mir nicht von ihr erzählen?“
Natürlich wusste ich, wovon er sprach. Susannes Gegeifere war ja unüberhörbar gewesen. Kraushaars Ohren würden garantiert nie traurig werden. Nichts entging ihm. Und von wegen Netz eingerollt… Kraushaar hatte es um mich gewoben. Es gab kein Entkommen.
„Ich habe sie so sehr geliebt. Da reichen keine Worte; sie beschränken uns so sehr. Bin schon immer am Versuch gescheitert, die Liebe zu beschreiben.“ Ich überlegte. „Da fällt mir etwas ein. Oft hatte ich das Gefühl, ihr ungeborenes Kind zu sein. Tief im Mutterleib, vollkommen geborgen und geschützt. Mit ihr, durch sie, wurde ich lebendig.“
Kraushaar war wieder dabei, sein Netz einzurollen. Er hatte mich.
„Und dann?“
„Ich war erwachsen, überheblich und dumm. Fühlte mich unentbehrlich, göttlich. Eines Tages, vor fast einem Jahr, war sie weg und ich begann zu verstehen.“


„Hörst du es? Die Liebe lebt noch in ihm!“
„Ja, ich höre es ganz deutlich. Vielleicht ist sein Vogel noch nicht aus Stein.“
„Lass uns gleich ans Werk gehen. Die Sonne ist auf unserer Seite.“
„Du hast Recht. Lass uns beginnen…“


Die nächsten Wochen waren voller Lebendigkeit. Ich fand einen neuen Arbeitsplatz, einen, der mich zufrieden nach Hause gingen ließ. Auf meinem Weg war überall Frühling. Die Erde blühte. Die Sonnenstrahlen erzählten von Farben und Gerüchen.
Mein Dachfenster war nicht mehr verschlossen. Kraushaar kam und ging wie es ihm gefiel. Während meiner Abwesenheit begann er, die Wohnung - wie er sagte - zu entmöbeln.
„Licht ist das Ziel“, sagte er, „wir müssen die Trauer aus deinem Leben tragen. In jedem Gegenstand, jedem Staubkorn, brütet die Vergangenheit. Sie wartet nur auf den richtigen Zeitpunkt um auszuschlüpfen und dir ins Gesicht zu springen.
Vor zwei Tagen erfuhr ich dann, was das mir bis dato unbekannte Wort „entmöbeln“ bedeutet. Ich kam von der Arbeit und fand alle meine Möbel vor der Haustür. Meinen Schrank, meinen Tisch, die Couch, die Sessel und mein Bett. Mein Bett! Ich rannte in einer für alle Ewigkeit gültigen Treppenhaushochrennrekordzeit die Stufen hinauf, öffnete die Wohnungstür und lief ins Wohnzimmer.

Pause!...Können sie sich das vorstellen?! Sie betreten ihr Wohnzimmer und denken: Wo bin ich hier? Nein, sie können es sich nicht vorstellen…Pause Ende!

Pflanzen und Grün wohin ich blickte. Der Frühling war eingezogen. Kraushaar musste Gärtner sein, oder Gott. Dort, wo vorher der Schrank stand, befand sich ein Regal voller Pflanzen. Die Blätter flossen auf den Regalböden entlang und ergossen sich in einem grünen Wasserfall über die Kanten. In einer Ecke stand ein steinerner Brunnen. Eine Wand war gefüllt mit Büchern. Sitzkissen, locker um einen flachen Glastisch verteilt. Palmen und Gummibäume. Wärme und Ruhe strahlte der Raum aus. Ein kleines Paradies.
„Und, gefällt es dir?“ kam es vom Dach.
„Ein Wunder! Wie hast du das gemacht?“
„Alles eine Frage der Organisation. Alles eine Frage der Organisation. Komm raus, setz dich zu mir. Es ist so schön hier draußen.“
„Nein, danke! Meine Welt ist hier drinnen.“
Kraushaar hatte die Augen geschlossen. In solchen Augenblicken war er nicht ansprechbar. Ich wusste immer noch nichts von ihm. Versuchte ich auch nur ansatzweise mich ihm zu nähern, warf er das Netz aus, und alle Worte prallten daran ab. Was auch immer seine Seele so tief verwundet hatte, es blieb tief in ihm verborgen. Leben schien er nur zu können, wenn er anderen das Leben schenkte.
„Wir sollten sie anrufen!“
„Wie meinst du das? Wenn sollten wir anrufen?“
„Deine große Liebe, du Unwissender. So lange du es nicht versucht, wird deine Seele nicht heilen. Es kann ja sein, dass sie kein Wort mit dir sprechen will aber du wirst es nicht erfahren, wenn du es nicht wenigstens probierst.“
Ich zappelte in seinem Netz. Wieder einmal. Es gab nur diesen einen Weg.
„Morgen rufe ich sie an.“

„Hast du mit ihr gesprochen?“
„Du wirst es nicht glauben! Sie möchte sich mit mir treffen. Morgen Mittag in unserem Cafe. Nicht was du denkst. Nur mal so sehen, was es Neues gibt. Ihre Stimme klang so freudig am Telefon. Sie hat keinen Moment gezögert. Mann, Mann! Ich bin völlig hin und weg. Was soll ich ihr nur sagen, was soll ich…


„Hörst du. Alles geht seinen Weg. Jetzt bist du an der Reihe!“
„Das ist nicht fair. Das hatten wir nicht ausgemacht. Ich kann nicht…“
„Doch. Nimm ihn mit! Er gehört zu uns.“


Kraushaar fing laut an zu lachen.
„Wie ist dein Name?
„Darauf habe ich lange warten müssen, Mr. Kraushaar. Jürgen ist mein Name.“
„Dann komm, Jürgen. Ich möchte dir etwas zeigen.“
Er ging an meine Wohnungstür, öffnete sie, und winkte mir ihm zu folgen. Zum ersten Mal sah ich Kraushaar meine Wohnung nicht durchs Fenster verlassen. Über eine Stunde führte er mich durch die Stadt. Wir sprachen kein Wort…


„Er wird mich nicht verstehen. Keiner versteht mich.“
„Hab keine Angst…er wird dich verstehen.“


„He, Kraushaar! Was willst du auf dem Friedhof?“
„Komm nur. Wir sind gleich am Ziel meines Weges. Ich möchte dir etwas erzählen. In meinem Leben gab es nur eine Liebe. Wir zwei waren eine Welt. Ich hatte ihr versprochen, immer auf sie aufzupassen.
„Denke daran, ich bin ein junger Vogel im Nest. Beschütze mich und wenn mir Flügel wachsen, lass uns fliegen.“
An jenem Abend, wir waren mit dem Auto auf dem Weg nach Hause, kam plötzlich ein Auto geflogen. Es rammte uns und das Auto prallte mit der Beifahrerseite gegen einen Baum. Ich hatte vergessen mich anzuschnallen und flog mit dem Kopf durch die Windschutzscheibe. Als ich wieder zu Bewusstsein kam, sah ich meinen Schatz. Sie saß auf ihrem Sitz. Die Engel hatten sie zu sich geholt. Ich hatte sie nicht beschützen können, habe mein Versprechen gebrochen. Sie hat niemals fliegen gelernt, nicht hier unten.“
Wir waren an ihrem Grab angekommen. Auf der Grabplatte saß ein steinerner Vogel mit ausgebreiteten Flügeln. Er schien nur darauf zu warten, sich von der Erde zu erheben.
Kraushaar lag in meinen Armen und weinte.
„Dich trifft keine Schuld, lieber Freund, keine Schuld!“
„Ich weiß! Das sagt sie mir immer wieder. Sie ist bei mir, spricht mit mir. Verstehst du das?!“
„Ja!“

Am Abend saß Kraushaar draußen auf dem Dach und sang leise vor sich hin. Es war ein guter Tag, seine Ansichten zu überdenken.
„Ich komme zu dir, Kraushaar.“
He, dass ist mal eine gute Idee von dir. Die Ziegel sind von der Sonne aufgewärmt und man kann wunderbar träumen.“
Die halbe Nacht verbrachten wir auf dem Dach und erzählten von unseren Engeln.
„Das sollten wir öfters machen, Kraushaar. Das hat was. Versprich mir bitte eins! Sollte mein Mädchen zu Besuch kommen - ich möchte ihr gerne deinen Garten zeigen - zieh dir bitte etwas an.“
„Klar, ich binde mir eine Krawatte um!“
Unser Lachen klang durch die Nacht. Alles war gut.
„Jürgen!“
„Ja!“
„Mein Name ist Manfred!“

_________________
Der Kopf denkt weiter als man denkt.


Zuletzt geändert von Otti am Mi 31. Mär 2004, 22:59, insgesamt 1-mal geändert.

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