Der alte Mann und das Lied der Liebe
„Zieht dich nicht das traurig, schöne Licht der untergehenden Sonne im Meer an?“. Er sprach zu sich selber. Er merkte es aber meist nicht. Es war eben so. Am Horizont lagen Schiffe, die er als kleine Punkte wahrnahm. Und wie es duftete, das Meer. In der Nacht lagen die Sterne über den Wellen und beleuchteten das andere Universum. Das der tiefen See. Da unten lagen versunkene Welten, lagen Schiffe, da lag ein Stück Geschichte. Große Männer hatten das Meer versucht zu bezwingen. Manche hatten es geschafft, andere mußten ihr Leben in den Fluten lassen. Hier kämpften auch Napoleon und Nelson. Dabei sah das Meer so friedlich aus. Und doch wußte er, auf seinem Grund lag auch ein Friedhof. Es schüttelte ihn. Dieses Bild widersprach dem, was er in sich trug. Für ihn war das Meer nur sein Freund. Der alte Mann wischte sich über seine Augen. Es ist nicht mehr das, was es mal war, sagte er. „ Das Meer, es sucht nach mir. Es ruft mich zu sich. Und eines Tages werde ich bei ihm sterben.“ Und der Wind der weiten Welt wischte sich durch die Furchen seines Gesichtes und die Abendsonne brannte noch ein letztes Mal, bevor sie unterging, in seinen Augen. In diesem Licht sah er wie ein Heiliger aus, der das bittere Leben getrunken hatte, daran zerbrach und dann erkannte, das er erst dadurch seinen Freund, das Meer gefunden hatte. Dem Meer erzählte er alles. Er sprach auch mit den Vögeln, die kreischend über seinen Kopf hinweg flogen. Er liebte diese unendlich zu scheinende Sicht über die Wellen. Hinaus, weit hinaus blickte er oft. Nur das Lied des Windes stimmte in seine Gedanken ein. So stand er da, mit zerzaustem Haar, Händen, die niemals das streicheln können, was er liebte. Stundenlang rührte er sich nicht vom Fleck. Es war ja alles, was ihm geblieben war –sein Meer. „ Ich weiß nicht“, sprach er dann, „ aber im Spiegel der Sonne sehe ich manchmal ihre Schönheit.“ Und er meinte damit seine große Liebe. Immer trieb ihn auch ein seltsames Gefühl zu seinen Wellen. Er wußte selbst nicht so genau, was genau das für Empfindungen waren. Aber er konnte dann anders an sie denken. Nicht mehr so traurig, wie sonst, wenn er in seiner alten Fischerhütte saß und alle möglichen Gedanken hatte und da saß und grübelte. Nachdachte über sie, seine Liebe, über ihr Verbleiben, was mit ihr geschah. Und ob sie jemals wiederkäme. Zu ihm, der sie doch über alles geliebt hatte. Und dann fing es wieder an mit den Selbstvorwürfen, mit den Zweifeln, mit der Qual der tausend Fragen. Niemanden wollte er dann sehen. Er verriegelte seine Hütte. Er wollte dann nicht einmal mehr zu seinem Freund, dem Meer laufen. Nein, soweit will er es nicht mehr kommen lassen. Außerdem konnte sie ihn ja viel eher finden am Meer. An jener Stelle, als sie sich zum letzten Mal, bevor sie spurlos verschwand, verabschiedet hatten. Noch immer konnte er sich an seinen Duft erinnern, noch immer sah er ihr Haar von Schulter, zu Schulter wippen und noch immer hörte er ihr Lachen. Und jetzt stand er wieder hier. So, wie jeden Tag. Und er nahm sich vor, nicht zu sterben, bevor er sie wiedergesehen hatte. Er wußte, es war ein törichter Wunsch, denn längst spürte er, daß das Ende nahte. Beinah achtundzwanzig Jahre kam er nun zu dieser Stelle. Achtundzwanzig Jahre hoffte er darauf, daß sie angelaufen käme, ihn umarmte und alles so sein würde, wie es damals war. Er hätte sie nicht alleine gehen lassen dürfen. Da waren sie wieder. Diese Vorwürfe. Er hätte sie nicht alleine in die Nacht am Meer gehen lassen dürfen. Warum nur hat er sie nicht nach Hause gebracht? Was war nur geschehen? Sie waren so glücklich, damals, an jenen Abend. So glücklich, dass sie bis in die Nacht am Meer saßen. Diese Bilder in seinem Kopf, diese Bilder von ihr, er trug sie all die Jahre mit sich. So sang der Wind des Meeres jeden Tag sein Lied für den alten Mann. Und es sang und sang. Er hörte zu, verstand es, als einen Trost zu hören. Manchmal stimmte er auch in dieses Lied ein. Dann summte er leise vor sich hin. Mit seinen Tönen da schienen auch die Vögel über seinem Kopf in den Wogen der Luft zu bewegen. Diese Frau, seine Liebe, war anders als er.Wie sie wohl heute aussehen würde? Er war schon längst grau. Hatte aufgehört die Furchen in seiner Haut zu zählen. Die Einsamkeit, die er gewählt hatte ließ ihn für andere Menschen merkwürdig erscheinen und so suchte er erst gar nicht mehr ihre Gesellschaft. Zu was auch? Er hatte doch das Meer, den Wind und seine Wellen. Da stand er nun, alt, gebrechlich und er merkte gar nicht mehr, wie der Wind seine Tränen mit sich trug. Dabei wollte er doch nicht mehr um sie weinen. Nur warten, warten das wollte er. Sanft wickelten sich die Wellen um seine Füße, bedeckten seine Schuhe mit Meerschaum und wollten ihn mit sich nehmen, den alten Mann. Copyright by Birgit Marie Nessel 2004
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