Theseustempel
(1. Wiener Schreibtag 2004-08-28)
Heut habe ich's grad bis zum Theseustempel geschafft. Vielleicht geh ich dann noch in ein Cafe - ins Central oder in den Bräunerhof. Ist ja nicht weit. Nichts ist weit in der Stadt. Olympia ist weit - von diesem Tempel aus gesehen ist Olympia weit.
Aber ich will ja gar nicht nach Olympia. Mit meinen ausgelatschten Sandalen würde ich es auch gar nicht dorthin schaffen. Bis zum Theseustempel ja - bis Olympia nein. Ich würde barfuss dort ankommen, mit Blasen auf den Füßen und die Leute würden mich auslachen. Alte griechische Bauern würden mich auslachen, ihre Enkel mich umtanzen und auf meine Füße zeigen. Veilleicht würden mir die Bauern Oliven anbieten - schwarze Oliven - und Rotwein und nasse Tücher für meine Füße. Ein schöner Einzug wäre das in Olympia: die Bauern, ich, von einem Schwarm lachender Kinder umtanzt, den Mund voller Oliven und Weißbrot, in der Hand einen Krug Rotwein und die Füße in nasse Lappen eingewickelt. Wirklich ein schöner Einzug - warum sitze ich eigentlich noch hier?
Theseus hat sich mittlerweile um keinen Millimeter bewegt - wie auch, er ist ja aus Bronze. Ungerührt steht er da, selbst wenn ihm die Frauen ans Geschlecht fassen, zuckt er nicht zusammen; soll Glück bringen oder vielleicht Fruchtbarkeit, Kinder, guten Sex - was weiß ich. Auf jeden Fall ist sein Geschlecht das einzige, was an ihm glänzt. Dabei hat ihm sein Schöpfer einen extra nachdenklichen Gesichtsausdruck gegeben, mit Blick in Richtung Olympia.
Eine Taube schleicht sich an mich heran. Vielleicht will sie mir ja auf den Kopf scheißen, vielleicht hält sie sich auch nur für einen Geier und mich für ein Aas. Aber ich bin nicht tot. Ich versuche nur Theseus nachzuahmen und mich nicht zu bewegen. Keinen Millimeter bewege ich mich und mit nachdenklichem Blick schaue ich in Richtung Olympia.
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