Die Angel lag ruhig in seiner Hand. Der alte Mann saß auf seinem Hocker, am Ende der Mole, und blickte übers Meer. Das Angeln war sein Leben. Morgens, lange vor Sonnenaufgang zum Meer, und abends, wenn sich verliebte Pärchen nach Sonnenuntergang ewige Liebe schworen, wieder nach Hause. Es gab eine Zeit, da war er gerne heimgekehrt. Die Stimmen, die ihn empfingen, in jener Zeit, waren lebendig. Jetzt waren sie nur noch Echos seiner Erinnerungen. Und diese Echos wurden immer leiser. Fast so, als stände man auf dem Gipfel eines Berges und sähe auf dem nächsten Gipfel einen Menschen winken. Winken und rufen…aber der Wind war zu laut und die Züge des Menschen vergingen, wie im Nebel.
Flut…
…an den Haken gehörte ein Wurm. Aber natürlich nur die Auserwählten. Es konnte schon mal vorkommen, dass er einen Wurm in der Hand hielt, gewissermaßen abwog, ihn beäugte, um ihn schließlich wieder auf die Erde zu legen. „Wachs´ du mir mal noch ein bisschen, mein Junge“, oder: „Da muss erst noch ein bisschen Fett auf die Rippen. Na ja…vielleicht im nächsten Jahr.“ Bei Ebbe gingen die Fische nicht an den Haken. Sie waren weit weg, in Gedanken. Irgendwo auf See…mit dem Meer gezogen, Richtung Horizont. Aber bei Flut…oh ja, bei Flut, kehrten sie zurück, waren hungrig von der Reise. Dann bissen sie…
Ja…und dann erzählten sie ihm Geschichten.
Ihre Mäuler öffneten und schlossen sich…als würden sie nach Luft schnappen. Aber so war es nicht. Die Fische erzählten vom Meeresgrund und diesem Land hinterm Horizont. Am Ende der Geschichten bedankte sich der alte Mann für die Worte, streichelte die Fische zärtlich, und warf sie zurück ins Meer. „Grüßt mir das Land hinterm Horizont“, rief er und winkte ihnen hinterher.
Bei Sonnenuntergang saß er nur da und blickte in sich. Manchmal fühlte er sich schwer, wie aus Stein. Als wäre er mit der Mole verwachsen. „Ein gutes Gefühl“, dachte er in solchen Momenten, „so…ja, genau so, muss sich der Tod anfühlen.“ Eines fernen Tages war es nicht mehr, nein, bald schon würde er kommen. Er spürte es.
Ebbe…
…zurück. Zurück in diese Wohnung, die ihm nur noch Museum war. Auf dem Weg dorthin gingen ihm einige Dinge durch den Kopf. Er wünschte sich den Augenblick zu spüren. Zu wissen, wann das Ende kam. Ein letztes Mal zum Meer und mit den Fischen sprechen. Ihnen erzählen, dass er heute noch das sagenhafte Land besuchen werde.
Die Angel bliebe dort. Sie hatte so viel zu erzählen. Vielleicht käme ein junger Mann, nähme sie in die Hand und würde verstehen…
..und er. Er würde eines Tages eben diesem jungen Mann an die Angel gehen und ihm vom Land hinterm Horizont erzählen.
_________________ Der Kopf denkt weiter als man denkt.
Zuletzt geändert von Otti am Fr 21. Jan 2005, 15:41, insgesamt 1-mal geändert.
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