Es klingelte. Ich ging an die Tür und öffnete. Niemand da. Auf der Fußmatte lag eine Sonnenblume. Merkwürdig…ausgerechnet eine Sonnenblume. Am nächsten und übernächsten Tag wiederholte sich das Geschehen. Es klingelte…ich öffnete…eine Sonnenblume. Immer gegen 16:00Uhr. Ich beschloss, am darauf folgenden Tag hinter dem Fenster Wache zu beziehen. Kurz vor Vier kam ein junges Mädchen, ca. 10 Jahre, an meine Tür. In ihren Händen eine Sonnenblume. So stellte ich mir das blühende Leben vor. Freude versprühende Augen und dieses Lächeln, das von Unbekümmertheit erzählt. Ich ging schnell zu Tür, öffnete und fragte, warum sie die Blumen hier ablege. Doch sie starrte durch mich hindurch, irgendwo in die Welt hinaus, zwinkerte mir zu, drehte sich um und rannte weg. Am nächsten Tag das gleiche Spiel und an den darauf folgenden Tagen auch. Mittlerweile blühten zwölf kleine Sonnen in meinem Haus …Sonnenblumen waren hier einmal zu Hause. Alles Lebendige war hier zu Hause…Sonnenblumen spendeten Wärme und Licht. Ich erinnerte mich und musste lächeln. Ich wollte diesen merkwürdigen Vorgängen auf den Grund gehen…versteckte mich am nächsten Tag kurz vor der üblichen Zeit gegenüber meines Hauses, und wartete auf das Sonnenblumenkind. Sie kam, legte die Blume ab und ging davon. Ich folgte ihr unauffällig. Das kleine Sonnenblumenmädchen hüpfte von einem Bein zum anderen, als würde sie unsichtbare Hindernisse überwinden. Sang dabei laut vor sich hin.
Ich bin ein kleines Menschenkind Und suche mir mein Glück Es liegt hier draußen auf dem Weg Und wartet nur auf mich
Ich finde dich, ich finde dich Und bist du noch so klein Nein, nein…du wirst mir nicht entgehen Ich möchte glücklich sein
Tanzend, hüpfend und singend stolzierte sie stadteinwärts. Ich kannte den Weg. Ging ihn jeden Morgen zur Arbeit und abends wieder zurück. In der U-Bahnhofsunterführung hielt das Mädchen kurz bei der alten Frau, die Cello spielte - lebenstief -, wiegte ihren Körper zur mollnen Melodie und verschwand.
Ich konnte mir keinen Reim auf ihr Verschwinden machen, lief von Gleis zu Gleis. Schließlich fand ich sie. Ein Jo-Jo glitt in ihren Händen auf und ab. Ein tiefes Surren untermalte die gleichmäßige Bewegung. Im Hintergrund, wie Begleitmusik zu einem Trauerzug, das apokalyptische Spiel des Cellos, voller Echos aus den Tiefen des Untergrunds.
Mein Blick glitt zur Anzeigetafel…
...der Zug nach „Rückwärts“ wird mit fünfminütiger Verfrühung eintreffen…
„Er kommt nie zu spät“, dachte ich mir und erschrak über den fremden, nahen Gedanken.
Ich blickte mich um. Nur das Mädchen und ich standen an den Schienen. Das Gleis gegenüber vollkommen verwaist. Auf der Anzeigetafel…
…der Zug nach „Vorwärts“ trifft mit fünfminütiger Verspätung ein… „Wie immer“…
Aus den Röhren erklang das metallische Klagen der Schienen. Cello und Jo-Jo betraten den tönenden Raum, eine Elegie anzustimmen. Sie traf…durch und durch.
„Halt an, halt an“, hallte es in mir…“Stille, bitte nur Stille“…alles verging.
Lautlos öffnete sich die Tür der U-Bahn. Das Mädchen betrat den Zug…Ich blieb! Nur meine Augen folgten. Von Station zu Station…
…ein Friedhof. Das Sonnenblumenmädchen steht vor deinem Grab.
„Manchmal glaube ich, dass er nie verstehen wird. Er erkennt die Zeichen einfach nicht. Trauert und trauert...ist immer nur im ~Gestern~, nie im ~Heute~.“
Ihr Mund bewegte sich nicht…und doch hörte ich ihre Stimme. Wie zur Antwort wuchs eine Sonnenblume aus deinem Grab. Nachdem sie vollkommen erblüht war, streichelte das Kind die Blume und nahm sie aus der Erde.
„Er wird nie verstehen…niemals…niemals…niemals…“
„Junger Mann. Geht es ihnen nicht gut. Können sie mich verstehen? Verstehen sie mich?“
Ich stand vor der alten Dame mit dem Cello. Tränen liefen über meine Wange. „Sonnenblumen hat sie so sehr geliebt! Verstehen sie das? Sonnenblumen und diese Melodie. Wo ist das Mädchen? Sie müssen sie gesehen haben. Wo ist die Kleine?“
„Ich weiß nicht wovon sie sprechen, junger Mann. Sie kamen vor einigen Minuten und lauschten meiner Musik. Plötzlich fingen sie zu weinen an. Geht es ihnen wieder besser?“
„Ich weiß es nicht. Es könnte sein…ja, vielleicht geht es mir jetzt besser.“
Ich sah das Sonnenblumenkind nicht wieder. Die ersten Tage wartete ich noch auf sie. Doch dann verging dieses Gefühl des Wartens und ich war froh, dass keine neuen Blumen kamen. Gestern besuchte ich die alte Dame in der Unterführung, legte eine Sonnenblume in ihren Cellokasten.
Sie schaute mich an und lächelte. Ich kannte dieses Lächeln von einem liebenswerten Blumenkind…
_________________ Der Kopf denkt weiter als man denkt.
Zuletzt geändert von Otti am Di 1. Feb 2005, 12:45, insgesamt 1-mal geändert.
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