Ortseingang
<i> Willkommen in The Good Life</i>
Dort stand er und winkte. „Können sie mich mitnehmen, zum Ortsausgang. Ich muss unbedingt sehen, was dort steht.“ Er zeigte auf das Schild. „Ich war noch nie am Ortsausgang, müssen sie wissen. Besser gesagt, ich habe schon das Gefühl dort gewesen zu sein, doch mir fehlt die Erinnerung...es ist nur ein Fühlen. So geht es mir mit allen Dingen. Es ist wie ein Branden, das niemals aufhört. Nicht, dass es mich erschüttert, nein, es bewegt mich, tief und tiefer. Wissen sie, auch wenn ich es morgen wieder vergessen haben werde, heute, in diesem Augenblick, wenn ich es lese, wird es mir viel bedeuten. Sie denken, dass ich enttäuscht sein könnte. Was soll`s. Am darauf folgenden Tag habe ich vergessen, auf was der Tag folgt. Ich suche das Gestern um des Heute willen. Oder das Heute um des Morgen willen? Wer weiß? Haben sie schon einmal darüber nachgedacht, wie lebendig die Zeit manchmal ist? Wir sind da!“ Er stieg aus dem Auto und blickte auf das Schild. <i>Sie verlassen nun - The Good Life -</i>
Jetzt sitzt er bei mir im Auto. Eine innere Stimme hat ihm geflüstert, dass er die Blume Immerblau finden muss. Wenn wir in einen Ort hineinfahren, schreibt er sich den Ortsnamen auf und vergleicht ihn mit dem Namen auf dem Schild am Ende des Ortes. Ich könne ihn rausschmeißen, wo immer es mir beliebe, sagte er. Ihn zu beschreiben, fällt mir schwer. Zwei Augen, eine Nase, ein Mund. Mit diesen Merkmalen formt er sein Aussehen immer wieder aufs Neue. Meistens liegt darin etwas von einer spitzbübigen Neugier, die nie gestillt werden kann. Seine Augen erinnern mich an einen Brunnen, in dem sich das glitzern der Sterne spiegelt, obwohl schon längst der nächste Tag angebrochen ist. Manchmal scheinen sie wie Melancholie. Ich möchte ihn nicht nach seinem Namen fragen. Er ist mir ohne Namen lieber. Namen engen ein. Namenlos kann ich alles in ihm umarmen. Wie ein neugeborenes Kind. Er scheint auf etwas zu warten. Vielleicht auf seine Geburt.
Er schläft. Ich beobachte ihn. Ein kleines Kind. Beim Ausatmen bläst er Spuckblasen auf und verschluckt sie beim Einatmen. Er träumt…ganze Welten, denke ich. Später. Wir fahren gerade durch eine kleine Ortschaft. Er sieht das Schild und ruft: „Zum Meer, zum Meer. Siehst du das Schild? Lass uns zum Meer fahren. Ich habe schon so viel davon gehört. Das Meer ist ein Land voller Wasser.“ Es war fast Sonnenuntergang, als wir schließlich im Sand saßen und den Wellen bei ihrem Spiel zuschauten. „Kannst du mir sagen, wie viel man behält und wie viel man vergisst? Ich möchte vergessen lernen.“ Ich schwieg, konnte seine Rätsel nicht lösen. „Mama hat immer gesagt, dass ich die Blume Immerblau suchen soll. Sie sei die Blume des Vergessens. Dann weinte sie oft... Siehst du, wie blau das Meer ist. Vielleicht wächst dort die Blume Immerblau.“ Ich blickte in seine Augen und lächelte. Irgendwann schlief ich ein. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war er fort. Keine Spuren, nichts. Ich blickte über das Wasser und fragte mich, welches Schild wohl am Ende des Meeres steht.
_________________ Der Kopf denkt weiter als man denkt.
Zuletzt geändert von Otti am Mo 11. Apr 2005, 17:22, insgesamt 1-mal geändert.
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