Später
Tropen. Sie hasst dieses Wort. Es erinnert sie an eine schwelende Infektion, an ein heimliches, fortschreitendes Leiden. Tropische Hitze, Fieberglühen. Sie ist träge geworden in den zwei Jahren auf der Insel, zu matt zum Auflehnen. Vielleicht hat sich eine Lähmung in ihr ausgebreitet, erst in den Gliedmaßen, später in ihrem Kopf. Gefangen, sagt sie leise. Juan wirft ihr einen geistesabwesenden Blick zu, dann reicht er ihr wortlos die Flasche. Später, danke, sagt sie. Warum trinken die Menschen hier, reicht es nicht, dass sie sich von der Hitze betäuben und vom Duft der Blüten betören lassen, bis das Vergessen einsetzt? Erstens aus Gewohnheit. Juan trinkt immer. Bei ihrer Ankunft saß er auf der Hafenmauer, sein Grinsen entblößte eine Zahnlücke, in der Hand hielt er eine Flasche. Hatte sie damals das Glück gesucht oder doch nur die Unbeschwertheit? Zweitens, ermahnt sie sich. Lass deine Gedanken nicht in alle Richtungen wuchern wie die Schlingpflanzen an der Veranda. Alkohol lähmt, flüstert sie. Ein Windhauch lässt die gelben Blüten nicken. Er bremst deine nagenden Zweifel. Du fängst einen Satz an und bringst ihn nicht zu Ende. Nichts beendest du. Wenn es nur kühler wäre. Einen einzigen Tag lang. Juans Hand tastet nach der Flasche. Sie schiebt sie zu ihm hinüber. Ihre Hände streifen sich. Drittens? Der Horizont hat sich unmerklich in eine scharfe Silhouette verwandelt. Eine graue Wolkenwand treibt das Sonnenlicht vor sich her. Bereits am ersten Tag hat sie sich Juan ergeben, seiner ledrigen, sonnengebräunten Haut, seiner knochigen Gestalt. Warum? Sie weiß es nicht. Die Gewitterfront rückt grollend näher. Bin ich wütend? Sie schüttelt den Kopf. Zwei Jahre lang hat sie auf dieser Veranda gesessen, gewartet, getrunken, mal mit Juan, dann wieder allein. Kalte Wut, denkt sie, und holt Erinnerungsfetzen an einen Wintertag hervor. Heiße Wut. Tropenhitze. Ihre Gedanken klammern sich fest. Wenn es nicht so drückend heiß wäre, hätte ich mich schon längst entschieden. Blitze zerreißen die Wolkenfront. Ein Vorsatz taucht hell aus ihren Grübeleien auf: Sobald das Gewitter die Luft gereinigt hat, sehe ich klar: Gehen oder bleiben. Eine Entscheidung für immer. Schwarze Wolken ziehen auf die Insel zu. Das Donnergrollen wird lauter. Selbst Juan spürt die Spannung in der Luft. Er richtet sich auf und wirft einen aufmerksamen Blick über den Horizont. "Vielleicht regnet es gleich", sagt er und nimmt den letzten Schluck Gin. Hoffentlich, murmelt sie und starrt in den Himmel, bis die zuckenden Blitze ihre Augen blenden und sie ins Haus geht. Sie legt sich aufs Bett und schläft erschöpft ein.
Der Wind dreht. Allmählich erobert das Blau des Himmels wieder seinen Platz über der Insel. Mit dumpfem Poltern zieht das Gewitter dem Horizont entgegen und lässt unerträgliche Schwüle zurück. Juan weckt sie, in der Hand eine neue Flasche. „Der Regen ist ausgeblieben. Willst du was trinken?“ Er beobachtet sie, während sie schweigend die Schweißperlen auf ihrem Unterarm betrachtet. Nichts hat sich geändert. Sie wischt eine Träne aus dem Augenwinkel. Danke, Juan, vielleicht später.
polli
_________________ Die Zeit schreitet voran. Und du, Mensch?
S. J. Lec
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