Runden II
Diesmal gehe ich im Wald meine Runde. Kommt jemand mir entgegen? Mir kommt gerade niemand entgegen, der Weg ist frei. Deshalb kann ich meine Gedanken unbeschwert schweifen lassen, während ich ordentlich ausschreite. Ich habe einen ganz schönen Schritt am Leibe, der manchen Leuten, wenn sie mit mir gehen, auf die Nerven geht. Eigentlich wollte ich eine theoretisch-systematisch-analytische Abhandlung über Königin Christina schreiben, aber daraus wird nichts. Jedenfalls hätte ich in dieser Abhandlung aus Königin Christinas eigener Lebensbeschreibung an irgendeiner Stelle Folgendes zitiert: „Ich habe noch zwei Fehler, nämlich daß ich zu oft und zu laut lache und daß ich zu schnell gehe. ...Solche Mängel bedeuteten nichts, wenn sie sich nicht bei einer Frau vorfänden.“ Schweden, siebzehntes Jahrhundert, falls es jemanden interessiert.
Ich gehe meine Runde und träume dabei - sagen wir, von Finnland. Ich bin nie in Finnland gewesen, aber ich habe einen Finnlandtraum. Der handelt von einem dunklen Schwan, der auf einem stillen See in einer geisterhaft hellen, kühlen Mittsommernacht gleitet. Menschen kommen in dem Traum nicht vor. Daraus können Sie schließen, daß ich so ziemlich außerhalb der Dinge stehe. Mich beschäftigt manchmal die Frage, ob ich damit nun über oder vielleicht eher unter den Dingen stehe. Fragen wie diesen pflege ich nachzugehen, wenn ich meine Runden drehe.
Wenn ich in der Stadt zu tun habe, mache ich dort meine Runde. Es ist nicht immer die gleiche Runde, wie ich auch im Wald nicht immer die gleichen Wege gehe, aber im großen und ganzen gibt es nicht allzuviel Variation. Auch in der Stadt habe ich eine Schirmmütze auf, sie ist aber dort nicht so notwendig wie auf dem Lande. Im Stadtgewimmel fühle ich mich selten beobachtet. Aber ich habe mich an die Schirmmütze gewöhnt und möchte sie nicht mehr missen.
Eine Station meiner Runde ist immer die Stadtbibliothek. Außerdem ist der Bibliothek ein Café angeschlossen. Dort sitze ich ganz gern eine Weile , falls mein Parkschein noch nicht abgelaufen ist, und beobachte zerstreut die Menschen um mich herum – Schüler, die in Gruppen angestrengt ihre Hausaufgaben machen, Ausländer im Exil, die hier anscheinend ihren Treffpunkt mit Gleichgesinnten gefunden haben und lebhaft irgendetwas in unverständlichen Sprachen miteinander diskutieren. Alle sind mit sich und anderen und anderem beschäftigt. Es besteht keine Gefahr, daß jemand auf mich aufmerksam wird.
So wie neulich. Da stand ich am Regal mit den Geschichtswerken, Schweden, siebzehntes Jahrhundert, und hatte gerade eine Lebensbeschreibung über Königin Christina herausgezogen und etwas darin aufgeschlagen, als neben mir jemand leise „Oh“ sagte. Ich wandte mich der Person zu, die gesprochen hatte und plierte sie unter der Schirmmütze hervor an. Es handelte sich um eine Frau, wesentlich jünger als ich. Mehr nahm ich von ihr zunächst nicht wahr, denn es ist nicht meine Gewohnheit, mir über die äußere Erscheinung anderer Menschen ein Bild zu machen. Es kommt vor, daß ich nach Jahren der Bekanntschaft nicht imstande bin zu sagen, ob jemand eine Brille trägt oder eine Glatze hat oder nicht. Die Polizei hätte an mir für den Fall, daß sie von mir jemals eine Personenbeschreibung verlangte, keine Freude.
Die Frau entschuldigte sich für die Störung, sie habe es auf dasselbe Buch abgesehen, und ob ich vorhabe, es zu entleihen. Ich bejahte, woraufhin sie sich etwas wand und damit herauskam, daß sie es dringend für ihre theoretisch-systematische Abhandlung über einen Aspekt der Regierungszeit Königin Christinas benötige, mit deren Abfassung sie in Verzug geraten sei, wodurch sie nun zeitlich unter Druck stehe. Ob ich ihr das Buch nicht für die nächsten Wochen überlassen könne.
Es kommt vor, daß ich spontanen Eingebungen folge. Eine solche führte dazu, daß ich vorschlug, weitere Verhandlungen über die Lösung unseres Dilemmas in die Cafeteria der Bibliothek zu verlegen. Ich hätte der Frau ja auch einfach das Buch übergeben können, mit besten Wünschen für gutes Gelingen bei ihrer Arbeit. Dazu war ich nämlich sofort bereit gewesen, denn ich hatte mein eigenes Vorhaben, eine theoretisch-systematische Abhandlung über Königin Christina zu schreiben, im selben Augenblick aufgegeben. Auf meinen Entschluß hin durchströmte mich ein so köstliches Gefühl der Befreiung, daß ich der Frau meine Hand reichte und sagte: “Ich heiße N.“ - ein Name, der mir gerade eingefallen war. Sie nahm meine Hand entgegen und sagte: “Ich heiße W.“ . Ich ging davon aus, daß das ihr richtiger Name war.
„Was machen Sie denn so?“ fragte W., als wir uns, mit Kaffee versehen, an einem Tisch gegenübersaßen und ich ihr das Buch zur Entleihe hinübergeschoben hatte. „Nichts,“ sagte ich. „Ich stehe außerhalb der Dinge. Was ich mich nur manchmal frage ist: stehe ich damit über oder unter den Dingen?“
Wo war ich stehengeblieben?- Ich war gar nicht stehengeblieben, sondern gehe sozusagen noch immer meine Waldrunde. Es dämmert, da ich immer erst in der Abenddämmerung aus dem Haus gehe. Ich kann helles Licht nicht ertragen, weder natürliches noch künstliches. Am liebsten gehe ich meine Runden bei Nebel oder Regen. Leute, die ihre Hunde ausführen, halten sich dann nahe bei ihren Häusern, und die Wahrscheinlichkeit, jemandem auf den Wegen zu begegnen, ist geringer. Nebel und Regen sind schützende Schleier. Es hat Zeiten gegeben, da konnte eine Frau in unseren Breiten einen Schleier tragen, es wurde bei bestimmten Anlässen sogar von ihr erwartet und entsprach der Mode. Ich sehne mich oft danach, einen Schleier zu tragen, aber das geht natürlich nicht. So etwas gibt es nur noch im Orient. Bei uns muß man sich im Gegenteil zeigen. Sich verbergen zu wollen, gilt als unzulässig, darüber hinaus als schädlich für die Gesundheit. Heute abend herrscht weder Nebel noch Regen, ich muß also auf der Hut sein.
_________________ bye, bye, my I
Zuletzt geändert von Eva am Do 8. Dez 2005, 13:00, insgesamt 1-mal geändert.
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