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 Betreff des Beitrags: Unterirdisch I
BeitragVerfasst: Di 5. Sep 2006, 06:36 
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Loena Irrdalen, erfolglose Schriftstellerin und schon lange nicht mehr jung, aber noch nicht alt, war auf dem Rückweg von einem langen Spaziergang im Stadtpark. Sie hatte über eine neue Geschichte nachgedacht, aber den Einstieg nicht gefunden.

Jetzt ging sie über den kleinen, von unscheinbaren Geschäften gesäumten Platz und sah, daß hier ein Museum mit dem Namen "Drottens Kirchenruine" war. Sie sah auch, daß der Eingang des Museums, wie alles andere, in der prallen Sommersonne lag. Drinnen würde es vermutlich stickig sein. Sie blieb stehen und blickte an dem Gebäude hoch, einfache Betonkonstruktion, über dem Museum mehrere Stockwerke Wohnungen. Ein paar Meter unter dem Gebäude konnte man durch eine schräge Glasfassade, durch die steil das Sonnenlicht einfiel, ein freigelegtes Fundament aus hellen, unbehauenen Steinen sehen. An der Eingangstür nahm sie Notizblock und Kugelschreiber heraus, die an jenem Tag noch nicht zur Anwendung gekommen waren, und notierte im Stehen, was dort auf einem am Glas befestigten Blatt Papier stand: "Dies ist ein unterirdisches Museum und sechzig Meter lang", in drei Sprachen, außerdem: öppet, open, geöffnet. Es wäre das erste Mal, daß sie mit gezücktem Notizblock und Kugelschreiber ein Museum betrat. Sie ging hinein.

Eine Treppe führte hinunter zu einem Kiosk mit Büchern und Broschüren zur Geschichte und Archäologie der Stadt, sowie Postkarten. Loena stand eine Weile und betrachtete sie. Hinter dem Tresen saß eine ältere, breit ausladende Frau, die bei ihrem Eintritt in einem Buch gelesen hatte, sie jetzt aber streng anblickte. "Den Obolus!" sagte sie so plötzlich laut in die Stille hinein (denn niemand sonst schien sich in dem Museum aufzuhalten), daß Loena zusammenfuhr und eilfertig fragte, wieviel sie zu erlegen habe. "Zehn Kronen, das wird ja wohl nicht zuviel verlangt sein," kam die Antwort von hinter dem Tresen. Loena war gebührend eingeschüchtert und gab ihr recht, war aber etwas seltsam berührt. "Wie exzentrisch von der Alten, hier von Obolus zu reden", dachte sie und stieg, nachdem sie bezahlt hatte, eine weitere Treppe hinab, die sie auf die Ebene des alten Fundaments brachte.

Ein Blick in die kleine Broschüre über diese Stätte, die sie gleich miterstanden hatte, sagte ihr, daß der gegenwärtige Stadtkern auf einem gewaltigen Abfallhaufen aus den letzten tausend Jahren ruhte, an einigen Stellen bis zu sechs Metern stark. Das mit den sechs Metern erinnerte sie an etwas, aber im Augenblick kam sie nicht darauf, woran. Sie ging ein paar Schritte tiefer in den Raum hinein und sah sich um.

Links hatte man das Fundament der Kirche und rechts beschriftete Tafeln mit Bildern und Grafiken von den Ausgrabungsarbeiten, die im Laufe der letzten Jahrzehnte durchgeführt worden waren, sowie zur Geschichte der Stadt seit ihrer Gründung vor etwa tausend Jahren. "Der Klang der Glocken wurde zum Symbol für den neuen Glauben. Er verjagte Riesen und Trolle und versammelte die Christen zum Gottesdienst", notierte sie.

In Glasvitrinen sah man Modelle von Holz- und Steinkirchen und Fundstücke wie Lederschuhe, Kämme, Schnallen, Münzen und dergleichen. Es folgten Tafeln über Kleidung, gesellschaftliche Schichtung im Mittelalter und Bestattungssitten, denn um die Kirchen herum hatten offenbar Friedhöfe für die bessergestellten Bürger der Stadt gelegen. Etwa dreitausenfünfhundert Skelette hatte man ausgegraben. ”Grabfrieden”, dachte Loena zerstreut und ging weiter. Ihr fiel jetzt ein, was es mit den sechs Metern auf sich hatte. "Die Danielstraße gibt es heute nicht mehr, sie ist, wie das ganze Süd-Hammerbrook, nach dem Krieg um sechs Meter aufgeschüttet worden," hatte sie erst vor kurzem gelesen. Hamburg, Juli 1943, der Feuersturm. Als die Luft brannte. Als im Tausendjährigen Reich während einer Nacht geschah, wozu hier tausend Jahre nötig gewesen waren, nämlich eine sechs Meter starke Schuttschicht städtischen Lebens aufzuhäufen. "Die Toten wehen durch Sonne und Schnee, die Toten müssen nie mehr sterben" murmelte sie vor sich hin.

Es folgten eine Reihe Vitrinen an der rechten Wand entlang, welche Skelette und einzelne Knochen enthielten. Ganz in der Nähe, hinter der Wand, sprang irgendeine Apparatur in regelmäßigen Zeitabständen an und aus. Es hörte sich jedesmal an wie der kleine Puff, der durch das Entzünden einer Gasflamme entsteht. Auf einmal ertönte auch Mönchsgesang, die Aufseherin im Kiosk hatte wohl ein Band in einen Kassettenspieler eingelegt. Loena war nach wie vor die einzige Besucherin, und wie sie schon vorausgesehen hatte, war es stickig hier. Weil von dem Spaziergang in der Wärme ihre Beine schwer waren, sah sie sich nach einer Sitzgelegenheit um. Zum Glück standen in einer Ecke ein paar Klappstühle, von denen sie sich einen vor die erste Vitrine stellte und sitzend mit ihren Aufzeichnungen fortfuhr.

Diese Vitrine war überschrieben mit "Kranke Kinder" und enthielt einen Unterschenkelknochen. Man wurde unterrichtet, daß er einem Kind gehört hatte, das im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren an Leukemie gestorben war. "Knochen und Knochenmark werden verdrängt und zerstört von Krebszellen, wodurch das angefressene Aussehen des Knochens verursacht ist,” sagte die Beschriftung. ”Behandlung heute: Chemotherapie. Damals: keine, tödlich."

Loena rückte ihren Stuhl vor die nächste Vitrine und schrieb: "Leben im Elend. Hüft- und Oberschenkelknochen. Krebsmetastasen bei einer Frau, die im 12.Jahrhundert lebte und im Alter von 35-40 Jahren starb. Sie war bettlägerig, bevor sie starb, und hatte extreme Schmerzen. Behandlung heute: Operation, Chemotherapie, Bestahlung. Damals: keine, tödlich."

Es folgten einige Rückenwirbel mit der Erläuterung, daß es sich hier um eine bakterielle Infektion der Wirbelsäule handelte, vielleicht Tuberkulose, bei einer Frau, die zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt gestorben sei. Sie war hochgradig pucklig gewesen und hatte Schmerzen und Schwierigkeiten beim Atmen gehabt. Elftes Jahrhundert. Behandlung heute: Antibiotika, Gipskorsett, Operation. Damals: keine.

Loena stand als nächstes lange und besah sich ganz aus der Nähe einen Schädel – gleichsam von unten, er war am Scheitel an der Rückwand der Vitrine befestigt. Man hatte den Gaumenknochen vor sich, in dem sich eine aufgerauhte Stelle befand, die der nebenstehenden Erklärung nach durch Syphillis verursacht war. Was sie aber am meisten fesselte, war, daß man vor sich ein rundes Loch von etwa vier bis fünf Zentimetern Durchmesser hatte, dort, wo der Kopf auf dem Rückgrat aufsaß. Daß sich in der Unterseite des Schädels ein Loch befand, war ihr bislang gar nicht richtig klar gewesen, obwohl sie natürlich im Laufe ihres Lebens das eine oder andere Skelett gesehen hatte, in der Schule, in Museen, und obwohl ihre Nichte während ihrer ganzen Ausbildung zur Krankengymnastin ein aufrecht stehendes, komplettes Menschengerippe in ihrem Zimmer hatte, das Emil hieß. Sie hatte eben noch nie einen Schädel von unten gesehen. Der Anblick berührte sie merkwürdig in einer Weise, über die sie sich keine Rechenschaft ablegen konnte. Die romantischen Zeiten waren ja vorbei, als man Bilder malte, auf denen ein junges Mädchen auf einen Schädel blickte, den sie in der Hand hielt, um die Vergänglichkeit allen Lebens zu besinnen. Oder man sich den Schädel eines verstorbenen Dichterfreundes präparieren ließ, um ihn als Trinkschale zu verwenden. Totenköpfe waren in unserer Zeit entweder ein Gegenstand der Wissenschaft oder der Scherzartikelläden, wo man es mit der Anatomie nicht so genau nahm.

Loena rückte ihren Stuhl vor die letzte Vitrine, die ein auf den ersten Blick fast vollständiges Skelett enthielt und mit "Verstümmelter Mann aus dem 12. Jahrhundert" beschriftet war, "Verlust beider Hände und eines Fußes, zwei oberflächliche Wunden durch Schwerthiebe sprechen dafür, daß er Gewalt ausgesetzt war." Daneben ein Textauszug: "...gerieten die Seeräuber (Vikinger) in Raserei, verspotteten und verhöhnten alle die edlen Gefangenen, hackten ihnen Hände und Füße ab, verunstalteten sie, indem sie ihnen die Nase abschnitten, und warfen sie halbtot an Land. Unter diesen befanden sich einige vornehme Männer , die diese Behandlung lange überlebten, eine Schande für das Reich und ein in aller Augen jammervoller Anblick. Adam von Bremen, 994 n.Chr., Kap.31." Loena notierte alles.
Nach kurzer Überlegung fügte sie hinzu: “Und so jagen die Völker einander / hin und her / über Land und Meer…” Man würde das vielleicht noch einmal an anderer Stelle verwenden können.

Die Apparatur sprang mit einem leisen Puff wieder an, und alle paar Minuten schaltete sie sich wieder ab. Die Mönche sangen weiter, ruhig und monoton. Loena konnte sich von dem Anblick des Skeletts nicht lösen. Dort, wo die Glieder abgetrennt worden waren, konnte man deutlich sehen, wie sich durch den Heilungsprozeß die Knochenenden ein wenig verbreitert und gerundet hatten. Beide Hände und ein Fuß. "Ein starkes Stück," dachte sie. Aber das war noch nicht alles, denn als sie sich auf ihrem Stuhl umwandte, um zu sehen, ob danach noch etwas käme, sah sie auf den Steinen des Kirchenfundaments eine Gestalt sitzen.

Eine in dunkle Lumpen gehüllte Gestalt saß da im grellen Licht, das von oben einfiel. Sie streckte einen Armstumpf vor mit einer Geste des Bettelns, und daran und an dem Beinstumpf, der aus den Lumpen hervorstak, konnte man sehen, daß es der verstümmelte Mann war. Sein Gesicht war im Halbdunkel seiner über den Kopf gezogenen Hülle nicht deutlich zu erkennen. Er saß etwas vorgebeugt, wie gegen einen starken Wind, gegen Regen und Kälte gewendet. Je länger Loena ihn ansah, desto dunkler und kälter wurde es um sie herum. Winter in dieser Stadt, vor so vielen hundert Jahren. "Er, dem nun alles eins ist, ob Sommer, ob Winter..." Sie wandte sich zurück und fühlte sich plötzlich sehr müde. "Einen Moment loslassen," dachte sie, und zum Geräusch des leichten Puffens jener Apparatur jenseits der Betonwand, das wie ein Atem war, und dem eintönigen Gesang der Mönche ließ sie ihren Kopf ein wenig zur Seite sinken ...


***

_________________
bye, bye, my I


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