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 Betreff des Beitrags: Die verbotenen Wörter
BeitragVerfasst: Fr 15. Dez 2006, 12:46 
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Gerda kennt die Weihnachtsgeschichte schon. Sie erscheint am 16. im Adventskalender bei <a target="_blank" href="http://www.buechereule.de.">www.buechereule.de.</a>

Lieben Gruß

polli

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Die verbotenen Wörter

Es war am 6. Dezember, also Nikolaus, als uns auffiel, dass sich Papa nicht wie sonst mit Schwung in seinen Lieblingssessel fallen ließ. Stattdessen legte er ein Kissen unter, ächzte leise und nahm behutsam darauf Platz. Meine kleine Schwester Ina durfte nicht wie sonst auf seinen Knien herumturnen, und wenn sich Papa erhob, verzog er vor Schmerzen das Gesicht.

„Papa, tut dir was weh? Bist du krank?“, fragte ihn Britta. Das ist meine große Schwester. Papa brummte irgendwas. „Er möchte nicht darüber sprechen“, übersetzte Mama.
„Warum nicht? Ist es vielleicht was Ekliges?“, fragte Britta hoffnungsvoll. Wir ließen nicht locker, bis Papa uns beschwor, keinem etwas zu verraten. Dann sagte er, er habe einen Furunkel. „Was ist ein Funkel?“, fragte Ina. Er erklärte, dass er einen riesigen Eiterpickel habe, und deshalb habe er Schmerzen und könne nicht gut sitzen.
Ina musste lachen und sang: „Es funkelt, es furunkelt an Papas Po“, worauf er zischte: „Hör sofort auf!“, und dann mussten wir schwören, dass wir nie, nie, nie etwas weitererzählen würden. Das taten wir und dann sagten wir noch, wir seien außerordentlich gut darin ein Geheimnis zu bewahren. Mama guckte etwas zweifelnd, sagte aber nichts.

Am nächsten Tag, es war der zweite Advent, war es bei uns wie immer. Wir aßen Lebkuchen und Marzipan, übten etwas Blockflöte und zankten uns, wer nach dem Mittagessen mit Spülen und Abtrocknen dran war. Nachmittags gingen wir Oma besuchen und schafften es irgendwie, an den Furunkel nicht einmal zu denken, und abends fiel uns allen ein, dass wir noch Hausaufgaben zu erledigen hatten.

Ein paar Tage später klingelte eine Nachbarin bei uns. „Ich wollte Ihnen etwas Murmeltierfett geben. Sie wissen schon. Für Ihren Mann“, sagte sie verschwörerisch zu meiner Mutter, drückte ihr ein Päckchen in die Hand und ging. Mama war verblüfft. Kurze Zeit später klingelte es erneut. Diesmal war es der Polizist, der schräg gegenüber in unserer Straße wohnt. Er war etwas außer Atem, als er sagte: „Ich wollte nur schnell das hier für Ihren Mann abgeben. Hat mir auch geholfen.“ Mama nahm eine Salbe entgegen und wunderte sich. Später schellte es noch drei Mal bei uns, und immer war es ein Hausmittel, das für Papa bestimmt war. Mama wunderte sich immer mehr, doch ehe sie uns danach fragen konnte, kam Papa von der Arbeit nach Hause.

„Was sollen diese Päckchen und Salben im Flur? Sind die etwa für mich?“ Papa war etwas ungehalten. Mama unterbrach ihn. „Die haben wir von den Nachbarn bekommen. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll.“ Daraufhin blickten die beiden zuerst sich und dann uns streng an. Papa guckte besonders streng. „Habe ich euch nicht BESCHWOREN, niemandem etwas von meinem Furunkel zu erzählen? Könnt ihr mir BITTE erklären, wie es kommt, dass die Nachbarn bei uns auf der Matte stehen und Arzneien für mich abgeben? Könnt ihr nicht EINMAL DIE KLAPPE HALTEN?“
Wir waren empört. „Wir haben ganz bestimmt nichts weiter gesagt. Niemandem.“ Hatten wir wirklich nicht, soweit ich mich erinnere.

Papa glaubte uns kein Wort und schimpfte weiter, während er in die Küche ging. Fürchterliche Strafen würde er sich ausdenken, seine Erziehung habe nicht gefruchtet, wir seien nur auf unser Wohlergehen bedacht, das alles predigte er, während er in der Küche auf und ab ging. Schließlich kam er wieder heraus, weil ihm eingefallen war, dass wir unsere Zimmer seit Wochen nicht aufgeräumt hätten, und das sollten wir auf der Stelle erledigen. Wir verschwanden in Brittas Zimmer und warteten, bis Papa nicht mehr sauer war. Zum Abendessen kamen wir in die Küche. Papa war immer noch ziemlich ärgerlich. Normalerweise ist unser Vater gut zu stoppen, wenn wir etwas schuldbewusst gucken und so aussehen, als habe er wirklich Recht. Diesmal half es nicht. „Gib mir mal die Butter, du Plappermaul“, sagte er zu Ina. „Quasseltanten“, unterbrach er Britta und mich, als wir etwas erzählen wollten. „Nichts könnt ihr für euch behalten.“ Mama sah ziemlich genervt aus.

Plötzlich hatte ich eine Idee. „Papa, wir werden dir beweisen, dass wir keine Quasseltanten sind. Schreib uns irgendetwas auf, das wir auf keinen Fall sagen dürfen. Und wenn wir das schaffen, weißt du, dass wir wirklich nichts weitererzählt haben.“

„Ja, genau!“, rief Britta. „Mach uns eine Liste von Wörtern, die wir auf keinen Fall, nie, nie, nie sagen dürfen. Wer sich dann verplappert, der kann am schlechtesten ein Geheimnis für sich behalten und der ist es bestimmt gewesen. Aber ihr Erwachsenen müsst auch mitmachen, sonst ist es ungerecht!“
Papa seufzte. „Au ja, das wird lustig“, sagte Ina, „aber du musst Wörter nehmen, ohne die wir nicht auskommen.“
Wir redeten alle durcheinander und schlugen verbotene Wörter vor: ja - nein - schwarz -weiß oder Mama - Papa - Oma und zwischendurch guckten wir unauffällig, ob sich Papas Laune besserte. Endlich mischte er sich ein: „Nun, wir können es versuchen. Ich hätte da auch schon eine Idee.“ Und mit diesen Worten ging er in die Küche, nahm sich ein Blatt vom Notizblock und einen Stift und setzte sich an den Tisch. „Geschafft“, flüsterte Britta. „Jetzt haben wir ihn abgelenkt.“ Mutter schüttelte den Kopf. „Ihr seid mir eine Bande!“

Schließlich stand Papa auf und verkündete: „Ich habe eine Liste von zwölf Wörtern gemacht, die ihr bis Silvester, also 23 Tage lang, auf keinen Fall, ich wiederhole, auf gar keinen Fall, sagen dürft. Weder draußen noch drinnen, weder laut noch leise. Ihr dürft sie noch nicht einmal schreiben. Wenn ihr das schafft, und ich glaube nicht, dass ihr es schafft, dann will ich euch noch einmal verzeihen, vor allem derjenigen von euch, die sich verplappert hat, so dass jetzt alle Welt von meinem Furunkel weiß. Ich hänge die Liste mit den zwölf Wörtern an der Kühlschranktür auf. Dann kann jede von euch einen Blick darauf werfen. Und mit diesem Gongschlag“ - Vater schlug mit der flachen Hand an die Küchentür - „gilt meine Liste, und zwar für jeden von uns. Ist das klar?“
„Ach Papa, kannst du uns nicht eben die Liste vorlesen?“, fragte Ina harmlos.
„Ihr wollt mich wohl für dumm verkaufen. Lest selber und versucht nicht mich hereinzulegen.“ Mit diesen Worten verschwand er im Wohnzimmer und ließ sich behutsam in seinen Lieblingssessel fallen. Wir sahen uns Papas Liste an und schüttelten den Kopf. Das würden wir nie durchhalten! Papa hatte genau die Wörter gewählt, die wir in den nächsten Wochen am dringendsten brauchten. Schließlich war schon Advent und wir alle freuten uns auf ..., na, auf das Fest. Fragt mich bitte nicht, welches Fest, denn dieses Wort stand auch auf der Liste.
Ich beschloss die Wörter heimlich abzuschreiben und auswendig zu lernen und dann so schnell wie möglich aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Meine Schwestern wollten es genauso halten. Mutter warf einen Blick auf die Kühlschranktür und murmelte etwas Unverständliches. Eines der zwölf Wörter war nicht dabei, schade.

In den nächsten Tagen passierte nichts Besonderes. Mutter backte Zimtsterne, Monde und Schokotaler und füllte vier Blechdosen. Wir halfen beim Ausstechen und bissen uns fast auf die Zunge, denn es ist unmöglich zu backen, ohne ein einziges Mal das Wort zu erwähnen, wonach es im ganzen Haus duftet. Beim letzten Blech vergaß Mutter auf die Uhr zu achten, und als sie zu spät das Backblech mit den verkohlten Dingern - ihr wisst schon, was ich nicht sagen darf - aus dem Ofen zog, schimpfte sie: „Das ist ja eine schöne - -„ und da biss sie sich gerade noch rechtzeitig selbst auf die Zunge, denn das, was sie sagen wollte, ruft sie immer, wenn ein Missgeschick passiert. „Puh, das ist ja noch einmal gut gegangen!“, rief sie erleichtert.

Am nächsten Samstag rief uns Tante Else an. Sie wohnt in Dresden, und jedes Jahr im Advent fragt sie uns am Telefon, ob wir wohl erraten, was sie uns dieses Mal schicken wird. Vater hatte den Telefonhörer in der Hand, und wir hörten voller Schadenfreude zu, wie er sagte: „Ja, Tante Else, ich weiß, was du uns schicken willst. Es ist ein Original Dresd- - ich meine, es ist das Gleiche wie im letzten Jahr.“
„Nein, Tante Else, ich finde nicht, dass ich irgendwie anders am Telefon bin.“
„Nein, Tante Else, ich habe nur gerade keine Lust, das mit Namen zu benennen, was du uns wie jedes Jahr schicken willst.“
Ina hüpfte um Vater herum und sang: „O Zitronat, o Zitronat, wie arm der Dings, der keines hat.“ Mutter unterdrückte ein Lachen. Vater versicherte: „Nein, Tante Else, ich habe nichts getrunken, ich bin völlig normal, und meine Lieben sind wohlauf. Ganz bestimmt. Auf Wiederhören, Tante Else.“ Mit letzter Kraft legte er den Hörer auf, dann rief er: „Was habe ich mir da bloß ausgedacht, das hält ja keiner aus! Es sind doch nur zwölf Wörter, die ich nicht sagen darf. Man sollte meinen, es gibt noch genug andere auf der Welt!“

Der nächste Tag wurde für unsere Eltern schwierig. Wie jedes Jahr hatten sie vor, in den Wald zu fahren und einen kleinen, gerade gewachsenen, hm, wie soll ich sagen, stachligen Waldbewohner zu fällen. Nein, keinen Igel. Sie wollten das Auto nehmen. Wir mussten zu Hause bleiben, damit der Waldbewohner hinten im Kombi Platz hatte. „Wir müssen uns beeilen, für heute Nachmittag haben sie im Radio Glatteis und Sch- -ietwetter angekündigt. Kinder, den Gefallen tu ich euch nicht, ihr wisst selber, welches Wetter ich meine. Denkt daran, wenn es losgeht, in der Garage ist Streusalz. Und hockt nicht so viel vor der Flimmerkiste, lernt lieber Vokabeln.“
„Jaha, machen wir“, versprachen wir, schlossen hinter den beiden die Haustür und schalteten den Fernseher ein.

Wie jedes Jahr im Advent sang im Fernsehen ein Kinderchor festliche Lieder. Ich singe für mein Leben gern laut mit, und es ist mir nicht einmal peinlich das zuzugeben. Nur, jetzt fingen für mich die Schwierigkeiten an. Meine Schwestern lauerten darauf, dass ich mitsang und voller Inbrunst ein falsches Wort losließ. Gut, beim ersten Lied blieb ich mühelos stumm. Es war „O Zitronat, o Zitronat, wie grün sind deine Blätter.“ Ihr wisst schon. Das zweite Lied singe ich normalerweise besonders gern und besonders laut: „Morgen kommt der ...“ Und an genau dieser Stelle verkniff ich mir den Rest. Bloß nichts falsch machen, schwor ich mir und presste meine Lippen zusammen. Meine Schwestern versuchten mich in ein Gespräch zu verwickeln. „Ob er wohl in Himmelpforten wohnt? Und ob sein Gespann für die Elche nicht zu schwer ist?“
„Genau. Ob er schon den Elchtest gemacht hat? Stell dir vor, wie das ganze hoch beladene Gespann umkippt. Und dann waren mal wieder die Elche schuld. Die am meisten schimpfen über die Elche, die waren früher selber welche.“
„Spinnt ihr?“, rief ich ärgerlich dazwischen. „Das waren doch keine Elche, die den Schlitten zogen. Das waren - - “
Die plötzliche Spannung in den Gesichtern meiner Schwestern alarmierte mich. Beinahe wäre mir eins der zwölf Wörter herausgerutscht. Gerade noch rechtzeitig rief ich: „Ihr wisst schon!“
„Schade“, seufzte Britta. „Fast hätte es geklappt.“

Als unsere Eltern wiederkamen, fragten wir uns gerade gegenseitig Vokabeln ab. Wir hatten nämlich die Autotür gehört und schnell den Fernseher ausgeschaltet. Sie warfen erst uns, dann sich einen liebevollen Blick zu und verschwanden im Keller, um den zukünftigen Schmuck für unseren benadelten Wohnzimmergast zu kontrollieren.
„Kinder, die Kugeln habe ich gefunden“, rief Vater zu uns nach oben. „Aber wisst ihr vielleicht, ob wir noch einen Rest von dem silbernen Aluzeug haben?“
Ich sah meine Schwestern an und rief scheinheilig zurück: „Aluzeug? Was meinst du denn damit? Suchst du vielleicht Alufolie? Die ist in der Küche, zweite Schublade!“
Vater rief zurück: „Erstens meine ich keine Alufolie, liebes Kind, und zweitens musst du dir was Besseres einfallen lassen, wenn du mich hereinlegen willst! Schreibt schon mal auf, was uns fehlt, dann könnt ihr morgen in den Laden gehen und welches kaufen. Golden oder silbern, das überlasse ich euch.“
Britta stand auf, holte Stift und Papier und wollte gerade das Gewünschte aufschreiben, als ihr auffiel, wie still es auf einmal war. Vater stand in der Tür und hielt den Atem an. Sie blickte auf. „Habe ich etwas Falsches gesagt? O Gott, beinahe hättest du mich ausgetrickst, Papa. Hier, schreib selber auf, was wir kaufen sollen.“

Abends saßen wir am Küchentisch und machten Pläne für das Fest. „Was habt ihr eigentlich für Wünsche? Oder möchtet ihr lieber eine Überraschung? Und es wäre sinnvoll, wenn wir die diesbezügliche Angelegenheit des Nehmens und Gebens für alle besprechen könnten, dann haben wir Gewissheit.“ So krampfhaft redete Mama nie. Uns war klar, was sie meinte, und so redeten wir ausführlich über die diesbezügliche Angelegenheit. Ina wünschte sich neue Schlittschuhe und zwei Computerspiele, ich hatte etwas Geld für eine kleine Musikanlage mit Mikrofon gespart und wünschte mir den Rest von meinen Eltern, und Britta wünschte sich Inline-Skater. Mama hatte wie jedes Jahr keine besonderen Wünsche, außer Gesundheit und einem neuen Jahr ohne böse Überraschungen. Wahrscheinlich würde Papa sie wieder im Januar ins Theater und ins Restaurant ausführen, und an den Kosten mussten wir uns dann beteiligen. Na ja, nicht sehr originell, aber wir hatten wenigstens keinen Anlass uns zu versprechen. Papa sollte etwas Nützliches bekommen, meinte Mama, und machte dabei ein wichtiges Gesicht. „Ich verstehe“, sagte er und stand auf. „Besprecht in Ruhe ohne mich, was ihr mir - - Darf man eigentlich Wörter sagen, die mit dem ursprünglich verbotenen Wort verwandt sind?“ Wir wussten es nicht.
„Schweigen ist Silber, Reden ist Gold. Ach ja, habt ihr schon das Aluzeug gekauft?“
„Ja, Papa, haben wir. Und jetzt brauchen wir eine männerfreie Küche.“

Nachdem sich Papa brummelnd ins Wohnzimmer verzogen hatte, zeigte uns Mama, was sie bereits gekauft hatte. Einen Frotteebademantel, einen warmen Schlafanzug und Skiunterwäsche. Lang. Dunkelblau. „Sehr originell“, meinte Britta, und Ina flüsterte: „Das wärmt den Funkel.“
Wir mussten so lachen, dass uns Mama aus der Küche schob und an unsere Hausaufgaben erinnerte.

Meine Deutsch-Hausaufgabe hätte ich am liebsten unterschlagen. Wir hatten nämlich eins der zwölf Wörter auf. So was wie Hänsel und Gretel oder Frau Holle. Ich hatte mir die Bremer Stadtmusikanten ausgesucht und „Eine Tiergeschichte“ als Überschrift gewählt. In der Schule musste ich mein Werk vorlesen, und Frau Klein fand, ich hätte mir viel Mühe gegeben. Noch mehr Mühe gab ich mir, auch in der Schule alle verbotenen Wörter zu vermeiden, was dazu führte, dass ich im Unterricht ziemlich schweigsam wurde. Ich war ziemlich erleichtert, als die Ferien begannen.

Am ersten Ferientag hatte Papa ein Problem. Der Furunkel war es nicht. Papa schwieg beharrlich, wenn wir uns nach ihm erkundigten, als wäre er das dreizehnte Wort seiner Liste. Das Problem war der Brief, den Papa wie jedes Jahr an unsere Verwandtschaft schreiben wollte. Er berichtete darin immer von den Ereignissen des letzten Jahres, fügte ein Gedicht oder eine kleine Geschichte hinzu und legte dann einen Termin für unser alljährliches Dingsbums fest, zu dem alle, auch der entfernteste Cousin und die älteste Großtante regelmäßig erschienen. Der Wortlaut für die Einladung zu diesem Dingsbums war immer gleich.
Papa saß mit Sorgenfalten vor dem Computer. „Kann mir jemand sagen, wie ich eine passende Formulierung finde?“ „Liebe Verwandtschaft, ich lade euch wie jedes Jahr zu etwas ein, was ich dieses Jahr nicht aussprechen und aufschreiben darf“, schlug Mama vor. „Noch so ’n Vorschlag?“
„Schick ein Foto vom letzten Jahr, schreib Termin und Ort dazu und darüber das Wort Einladung. Wer das nicht versteht, kann gern zu Hause bleiben.“ Das war Brittas Idee. Papa schüttelte den Kopf. Schließlich schrieb er: „Erinnert ihr euch noch an unsere Zusammenkunft im Waldgasthof Möller? Weil es dort so schön war, wollen wir auch im Januar wieder dort beisammen sein.“ Ich fragte ihn, ob er noch alle beisammen habe, aber ein besserer Text fiel uns nicht ein, und außerdem war es nur Papa, der sich bei der Verwandtschaft mit diesem Schreiben blamieren würde.

Von Heiligabend kann ich nichts Besonderes berichten. Wir schmückten unseren grünen Wohnzimmergast mit Kugeln und frisch gekaufter Aludekoration, freuten uns über die Gegenstände, die anlässlich der Freude über das Geben und Nehmen gekauft worden waren und naschten die übrig gebliebenen kleinteiligen Backerzeugnisse aus Mamas Blechdosen. Später spielten meine Schwestern und ich Blockflöte. Vorsichtshalber ließen wir die meisten Lieder aus und blieben bei Jingle Bells und Alle Jahre wieder. Unsere Eltern freuten sich trotzdem, Mama sah ganz gerührt aus und Papa hüllte sich in seinen Frotteebadebantel. Es war ein schöner Tag für uns alle.
Am nächsten Tag, ihr wisst schon, welchen ich meine, kam Oma zu Besuch. Sie erscheint immer schon vormittags und hilft dann meiner Mutter in der Küche. Und wie jedes Jahr brachte sie uns Mettwürste mit. Der Mensch lebt nicht von Süßigkeiten, er braucht auch etwas Herzhaftes, pflegte sie dann zu sagen, wenn wir protestierten.
Und als sie Papa die Mettwürste überreichte, sah sie ihn streng an und sagte: „Ist dir eigentlich klar, dass du mich noch gar nicht richtig begrüßt hast? Du könntest das jetzt nachholen, mein Junge.“
„Ja, Mama“, sagte Papa zu Oma und sah ungefähr so aus wie wir, wenn uns Papa ermahnt, und dann sagte er mit fester Stimme: „Mutter, ich wünsche dir frohe Weihnachten.“ Und dann sah er uns erschrocken an und sagte: „Ich glaube, ich habe mich ganz fürchterlich verplappert!“

Oma guckte etwas irritiert, dann beruhigte sie Papa: „Nicht so schlimm, mein Junge, ich habe mich neulich auch verplappert. Du hast mir doch von deinem Furunkel erzählt, von dem keiner wissen durfte. Ich war neulich eurer Nachbarin begegnet und habe ihr aus Versehen von deinem Leiden berichtet. Sie war sehr interessiert und wollte sich gleich bei ihren Bekannten erkundigen, ob jemand ein gutes Hausmittel dagegen kennt.“

„Tatsächlich, Oma, das hat unser Vater dir erzählt?“, fragte ich. Und dann sahen wir alle ganz streng Papa an.

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S. J. Lec


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 Betreff des Beitrags: Re: Die verbotenen Wörter
BeitragVerfasst: Fr 15. Dez 2006, 13:26 
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Eine schöne Geschichte. Und bestimmt auch wahr.

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 Betreff des Beitrags: Re: Die verbotenen Wörter
BeitragVerfasst: Fr 15. Dez 2006, 15:29 

amüsant - wirklich eine sehr schöne geschichte <img src="http://www.ottolenk.de/smileys/yes.gif" border="0">
sehr, sehr gern gelesen, liebe polli ...

mit einem lächeln, annabel <img src="http://www.ottolenk.de/smileys/53.gif" border="0">


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 Betreff des Beitrags: Re: Die verbotenen Wörter
BeitragVerfasst: Fr 15. Dez 2006, 16:30 
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ich seh dich da stehen und lesen, liebe polli.

und würde grad gern die uhr zurück drehen, um noch mal einen schönen abend mit dir und den anderen zu haben.

<img src="http://www.ottolenk.de/smileys/41.gif" border="0"> die geschichte ist super schön.

gerda <img src="http://www.ottolenk.de/smileys/6.gif" border="0">

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Lache, wenns zum weinen nicht reicht!


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 Betreff des Beitrags: Re: Die verbotenen Wörter
BeitragVerfasst: So 17. Dez 2006, 18:10 
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Klar, Uta, jedes Wort ist wahr, zumindest so wahr wie alle meine Geschichten, die ich so lange vor meinem geistigen Auge sehe, bis ich die Leute, die darin vorkommen, und ihre Wohnungseinrichtung und alles andere kenne ... <img src="http://www.ottolenk.de/smileys/grin.gif" border="0">

Danke, ihr Lieben, dass euch die Geschichte gefällt, und ja, Gerda, lass uns die Uhr zurückdrehen oder doch lieber nach vorn schauen, denn im neuen Jahr lesen wir bestimmt wieder was zusammen!

Lieben Gruß

polli

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S. J. Lec


Zuletzt geändert von polli am So 17. Dez 2006, 18:10, insgesamt 1-mal geändert.

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 Betreff des Beitrags: Re: Die verbotenen Wörter
BeitragVerfasst: So 17. Dez 2006, 21:08 
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Registriert: Sa 6. Sep 2003, 14:45
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Wohnort: in Schwaben

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Lieben Gruß,
Kathrin smiley_1:

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dem wort anheim fallen...


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 Betreff des Beitrags: Re: Die verbotenen Wörter
BeitragVerfasst: Sa 6. Jan 2007, 17:27 

dreimal schade, dass ich diese fröhliche geschichte erst jetzt entdeckt habe.....ich hätte sie glatt zu weihnachten vorgelesen !

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