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 Betreff des Beitrags: Mit meinen Augen
BeitragVerfasst: So 18. Feb 2007, 19:10 
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Registriert: Do 25. Mai 2006, 22:30
Beiträge: 846
Wohnort: 75239 Eisingen

Ein Hauch von Wind wehte durch das Fenster, als ich den Anruf bekam. “Ich bin’s“, sagte sie mit einem Tonfall, den ich noch nie zuvor von ihr gehört hatte. “Hörst. Du, ich bin’s“.
Ich drückte auf die Aus-Taste des Apparats und wartete, bis der Widerhall dieser Worte erlosch. Als ich das Telefon wieder zusammen klappte, sah ich auf dem Display ihre Nummer langsam verschwinden
Ich stellte das Gerät auf den Beistelltisch der Couchgarnitur, die sie vor einem knappen Jahr selber ausgesucht hatte und schaltete die Mute-Taste des Fernsehers wieder an, die ich gleichzeitig mit der Annahme des Telefonats gedrückt hatte. In diesem Moment wurde Werbung eingeblendet, und die aufkommende Musik war viel lauter als der Film zuvor. Das Glas vor mir war leer, die Colaflasche stand daneben, und ich goss mir ein volles Glas ein und trank es in einem Zug aus. Einige Tropfen rollten mir die Mundwinkel herunter.
Mein Blick streifte die Digitaluhr des DVD-Recorders. Auf den grün leuchtenden Ziffern war 23:18 Uhr zu lesen. In dieser Sekunde sprang die Uhr auf 23:19. Aus dem noch offenen Wohnzimmerfenster hörte ich, wie ein Auto immer näher kam, kurz anhielt und sich nach wenigen Sekunden wieder entfernte. Es war für einen Freitagabend verhältnismäßig ruhig auf der Straße, die sonst auch an normalen Wochentagen sehr belebt ist. Der Lärm hatte mir eigentlich nie was ausgemacht, auch nicht damals vor drei Jahren, als wir hier eingezogen sind. Inzwischen ist er zur Normalität und der Lärm der Straße ist zu einem Lebenszeichen der Stadt geworden.
Mit meinen Augen gesehen war ich immer der, der von ihr erwählt werden sollte. Ich wollte dass Sie ein Zeichen setzt und in mir den Mittelpunkt ihres Lebens sieht. Und als die Ungeduld immer größer wurde, war es für mich nur ein Bekenntnis ihres Unentschlossenseins. Manchmal war ich sogar der Meinung, dass nur ich ihre Schönheit entfalten kann. Sie würde älter werden, ich würde älter werden, die Gebäude, die Straßen würden älter werden und nur ich allein könnte das Siegel der Erleuchtung anbringen. Der Erleuchtung, dass es in dieser Straße, in dieser Stadt, in diesem Land nur zwei Menschen gibt, die dem Elend der Langenweile Paroli bieten können.
Der Ton aus dem Fernseher wurde wieder etwas leiser. Nicholas Cage hatte gerade seine Filmpartnerin geküsst, und in dem Abspann vermischten sich blaurote Buchstaben mit dem Schwarz des Hintergrunds.
Mit meinen Augen gesehen war ich der einzige Kritiker ihrer Ausschweifungen. Dazu zählte ich jede Minute, die sie ohne mich verbrachte.
„ Meine Großmutter, lebte noch in einem Bergdorf „ sagte sie und glaubte damit eine Entschuldigung zu finden, die jedoch wie eine Nadel auf einer Schallplatte nicht die richtige Rille findet.
Eifersucht war immer eine meiner großen Schwächen. In einem einsamen Tisch mit einsamen Bechern suchte ich Trost und bestärkte mein Empfinden, dass ich Dir zu Ehren die Sklaverei wieder aufleben lasse.
Offen gestanden glaube ich nur an die Bestimmung des Herzens. Diese Macht, die analog der eines Despoten, Daumen hoch, Daumen runter, das Lebensschicksal bestimmt.

Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, da der Fernseher jetzt ausgeschaltet war und nirgendwo ein Licht den Raum überflutete. Ich war in einer Art Wachtraum. Selten gelingen Befreiungsschläge ohne nennenswerte Hindernisse. Sie war weit weg, ich war da und machtlos, die Sonne noch sechs Stunden entfernt und die Lichter von Paris leuchteten für Andere.
Wie gern würde ich jetzt mit Regentropfen, roten Regentropfen die Vorderfront einer Einkaufspassage bemalen. Wie gern würde ich Schmetterlinge in Herzform durch die Luft fliegen sehen, doch ich bin so unsichtbar und lediglich Untote können mich erahnen. Wahrnehmbar bin ich nur für die Verdammten.

Mit meinen Augen gesehen dauerte unsere Melodie lediglich ein Jahr. Es war eine Melodie mit einem Rhythmus zwischen Vivaldi und Rachmaninow.
Nein, nein, ich klage nicht die Vollkommenheit an. Diese hatte sich in der Zeit unseres Zusammenseins von der Poesie der Herzen verabschiedet. Sie hielt Hofstaat in zugigen Bahnhofshallen und rauchigen Vorstadtkneipen.
„Heute zu Ihren Diensten„ oder „Verzettle Dich nicht„ sagtest Du genau vor einem Monat an dem Tag als wir beschlossen, dass unsere Liebe nur dann Bestand hätte, wenn wir uns exakt 30 Tage nicht sehen, sprechen oder sonst miteinander kommunizieren.
Und dann….. rief sie an und es war wie das zünden einer Zeitbombe. Sie hätte noch 42 Minuten warten können, nein sie rief an und die Explosion erfasste Spione und Verräter, Zeitungsverkäufer und Büroangestellte, Aushilfskräfte bei McDonalds wie auch Jungfrauen. Das Schlachtfeld war der Umkleideraum der Einbildungskraft.
Ich wusste, dass es vorbei war. Die Tage enden, Kriege enden, Menschenleben enden, warum soll auch eine Liebschaft nicht enden.
Ein klitzekleiner Schimmer des Morgens ist zu sehen. Meine Augen sind verschleiert, aber ich erkenne die gelbrötlichen Strahlen der Sonne und es gibt fast nichts mehr, was ich wissen will, was ich erfahren möchte.
So süß war der Duft ihrer Haare, und ich lausche nach meinem Puls, um zu erkennen, ob es noch einen Sinn gibt, der Erinnerungen an Sie zu huldigen.
Ich habe ihr Ideal missbraucht, ihre Empfindungen destilliert.
Der Verkehr nimmt an Lautstärke zu, das Zimmer wird heller, meine Augen müder und ich vernehme aus der Entfernung lediglich die Worte: „Ich bin’s, hörst du mich ... ich bin’s“.

_________________
Bleibe Dir immer treu


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 Betreff des Beitrags: Re: Mit meinen Augen
BeitragVerfasst: So 18. Feb 2007, 20:49 

ein wirklich wirklich sehr gutes prosastück ... bin beeindruckt, sehr ... <img src="http://www.ottolenk.de/smileys/yes.gif" border="0"> den spannungsbogen gehalten, fließend geschrieben - sauber <img src="http://www.ottolenk.de/smileys/daumen.gif" border="0">

alles liebe dir, annabel <img src="http://www.ottolenk.de/smileys/53.gif" border="0">


Zuletzt geändert von Annabel am So 18. Feb 2007, 20:49, insgesamt 1-mal geändert.

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 Betreff des Beitrags: Re: Mit meinen Augen
BeitragVerfasst: Mo 19. Feb 2007, 19:39 
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Registriert: Sa 11. Jun 2005, 17:20
Beiträge: 20865
Wohnort: Schweden

eine reiche geschichte aus lauter andeutungen ...
wirklich poetische prosa voller athmosphäre

gefällt mir sehr <img src="http://www.ottolenk.de/smileys/53.gif" border="0">

_________________
bye, bye, my I


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 Betreff des Beitrags: Re: Mit meinen Augen
BeitragVerfasst: Mo 19. Feb 2007, 21:48 
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Registriert: Do 7. Sep 2006, 07:58
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