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 Betreff des Beitrags: Zwei Wochen am Meer
BeitragVerfasst: Di 12. Feb 2008, 22:25 
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Registriert: Do 7. Sep 2006, 07:58
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<b>Zwei Wochen am Meer</b>

Heute war er nicht da. Bevor sie die Tür der kleinen Kate hinter sich schloss, hatte Karin bereits den Deich mit den Augen abgesucht. Schade. Endlich hatte sie sich vorgenommen ihn anzusprechen, da war er fort. Die Deichkrone war leer bis auf ein paar weidende Schafe.
Karin zog ihren Schal enger um den Hals, steckte den Hausschlüssel in die Jackentasche und stapfte in Gummistiefeln zur Treppe.
"Guten Morgen, Schafe", grüßte sie nach beiden Seiten, während sie die brüchigen Betonstufen hinaufstieg. "Ihr habt es gut, ihr dürft immer hier leben." Der Wind riss ihr die Worte von den Lippen.

Karin Lenzen hatte die Kate am Deich für zwei Wochen gemietet.
"Ich muss einfach mal raus", hatte sie zu ihrer Freundin Josi gesagt. "Ich brauche Luftveränderung. Zeit zum Nachdenken, wie es weitergehen soll."
Dann hatte sie einen Koffer mit Pullovern, Jeans und allem Nötigen gepackt, hatte sich in ihren alten Renault gesetzt und war nach Norden gefahren. Im Touristikbüro des kleinen Ortes hatte die freundliche junge Frau genickt. Kein Problem, im November eine ruhige Unterkunft direkt am Meer zu bekommen. Zwei Wochen? Aber gerne doch.
Die zwei Wochen waren fast zu Ende. Ein Tag blieb Karin, morgen würde sie abreisen. Ich werde die täglichen Spaziergänge am Meer vermissen, dachte sie, die Stille im Rauschen der Wellen, die Zärtlichkeit im Brausen des Windes. Zurück in die Stadt, zurück in den Alltag und die Routine. Ein Ausbruch auf Zeit.
Heute ein letzter Rundgang zu all den lieb gewonnenen Wegpunkten. Karin holte tief Luft und marschierte mit kräftigen Schritten los. Vorbei an dem Kassenhäuschen, das in dieser Jahreszeit unbesetzt war. Hinunter zum Strand, der nur noch von vereinzelten Strandkörben bevölkert wurde. Über glitschige Planken den Bootssteg bis ans Ende, um den Blick ein Stück weiter hinter den Horizont zu schieben. Dem Leuchtfeuer die Hände auf den geringelten Leib legen und durch das Dorf im Bogen zurück. Das letzte Stück wieder auf dem Deich entlang, dem Maler ein "Moin" zurufen und ein Nicken als Antwort erhalten.

Ach nein, der Maler saß ja nicht auf dem Deich. Wo er wohl war? Hatte er genug vom Malen? Hatte er sich ein anderes Motiv gesucht? Tag ein, Tag aus das Meer zu malen, das musste doch langweilig werden. So langweilig wie die wiederkehrenden Arbeiten im Büro.
Karin stieg am anderen Ende des Dorfes zum zweiten Mal an diesem Tag eine Treppe am Deich hinauf. Der Wind hatte nachgelassen und sie öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke ein kleines Stück. Zweihundert Meter entfernt sah sie ihre Kate in den Schutz einer Weißdornhecke geduckt. Und von hier aus sah sie auch den Maler.
Am Fuß des Deiches hatte er seinen Schemel in den tiefen Sand gedrückt. Eine Tasche lag neben ihm auf dem Boden und auf den Oberschenkeln hielt er seinen Malblock. Keine Staffelei, nur einen Block. Karin tappte rutschend über das feuchte Gras den Deichhang hinunter. Der Maler wandte kurz den Kopf, nickte ihr zu und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit.
"Moin", sagte Karin, als sie neben ihm stand. Er tunkte den Pinsel in ein Schraubglas mit Wasser, wischte im Farbkasten über Ultramarin und Grasgrün und zog Wellen auf dem feuchten Aquarellpapier. Erneut tunken, wischen, Wellen ziehen. Ein wenig Blaugrau, ein Hauch Zitronengelb, die Wellen begannen sich zu bewegen, zu leben. Karin staunte. Weiße Wellenkämme spritzten Gischt in die blassblaue Luft. Karin beugte sich vor. Die Gischt - einfach das durchscheinende Papier. Ihr erstauntes "Wow!" entlockte dem Maler ein Lächeln. Mit zügigen Pinselstrichen arbeitet er weiter, bis er nach wenigen Minuten mit dunkler Farbe eine zarte Signatur und die Jahreszahl in eine Ecke seines Werkes hauchte. Er legte den Block auf seine Tasche, spülte den Pinsel im Wasserglas aus und streckte sich.
"Faszinierend", flüsterte Karin. "Ich könnte das nie."
"Doch." Der Maler stand von seinem Schemel auf und sah sie an.
Karin schüttelte den Kopf. "Nein, ich bin völlig untalentiert. In der Schule hatte ich immer eine Vier in Kunst."
Der Maler schnaubte: "Pah, Schule!" Er löste das Blatt mit dem Meeresaquarell, steckte es in eine Mappe und hielt Karin den Block hin. "Versuchen Sie es."
Karin wich einen Schritt zurück. "Ich kann nicht."
Der Maler zuckte mit den Schultern - "Dann nicht." - und begann, seine Utensilien einzupacken.
"Man weiß nie, was man kann, wenn man es nicht versucht", murmelte er.
Karin räusperte sich.
"Ich - ich - seit Tagen würde ich Sie gerne etwas fragen." Sie stockte und spürte, wie ihre Ohren rot und heiß wurden.
Der Maler schaute sie an und wartete.
"Jeden Tag habe ich Sie hier am Deich sitzen und malen sehen. Jeden Tag das Meer. Immer das gleiche Motiv. Warum tun Sie das?"
"Cézanne hat den Gebirgszug Sainte Victoire bei Aix-en-Provence mindestens 60 Mal gezeichnet und gemalt. Immer wieder entdeckte er Neues in Bekanntem. Er liebte den Berg, er wollte ihm gerecht werden."
"Und Sie lieben das Meer?"
Der Maler nickte.
"Ich möchte das Meer so gut malen, wie ich nur kann. Bei Sonnenschein und dunklen Wolken, bei Flaute und Sturm, im Morgenrot und mit untergehender Sonne."
Karin glaubte zu verstehen.
"Das heißt, entweder tue ich etwas mit Liebe, dann muss ich mich mit Haut und Haar darin verlieren. Oder ich muss es bleiben lassen. Keine halben Sachen."
Der Maler nickte wieder. Karin lächelte, schaute in den Himmel und atmete einen Seufzer in die salzige Luft.
"Danke."
Der Maler schaute sie irritiert an. "Wofür?"
"Weil diese zwei Wochen am Meer nun doch nicht umsonst waren."

© U.L., Februar 2008


<i>falls ihr einen besseren Vorschlag für den Titel habt, oder andere Kritik, dann nur her damit</i>

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 Betreff des Beitrags: Re: Zwei Wochen am Meer
BeitragVerfasst: Mi 13. Feb 2008, 07:15 
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Beiträge: 4444
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morgen, uta,
der text ist schön, sehr schön. <img src="http://www.ottolenk.de/smileys/daumen.gif" border="0">

der titel ist mir zu nichtssagend, er macht mich nicht neugierig.
andererseits willst du im titel nicht schon alles verraten, oder?

jedenfalls fällt mir auf die schnelle kein besserer ein.
ich überleg noch mal


<img src="http://www.ottolenk.de/smileys/6.gif" border="0">

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 Betreff des Beitrags: Re: Zwei Wochen am Meer
BeitragVerfasst: Mi 13. Feb 2008, 07:52 
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Beiträge: 6818
Wohnort: Dorf bei Gummersbach

danke dir, Gerda

ich werde auch noch weiter überlegen
"nichtssagend" ist der richtige Ausdruck <img src="http://www.ottolenk.de/smileys/undecided.gif" border="0">

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