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 Betreff des Beitrags: Otto Lenk: Stationen II
BeitragVerfasst: So 30. Jun 2013, 20:22 
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Stationen II

Bahnhöfe haben keine Namen. Sie gleichen Abschieden, die nur Gefühle kennen.

Mein Platz ist am Bahnsteig 7, auf dieser Bank, die einer Litfasssäule des Lebens gleicht. Hier sitze ich und füttere Tauben. Zwischendrin schreibe ich Einkerbungen in die Bank. „Bitte schreibe mir“ oder auch: „Kannst du dich an mich erinnern? Ich bin der dunkelhaarige Junge aus der Disko“
Ich fülle Hoffnungen mit Buchstaben. Denke mir Geschichten dazu.

Morgen wird sie hier sitzen und diese Worte lesen: „Kannst du dich an mich erinnern?“ Ihre Gedanken werden zurückschweifen … “Da war doch dieser hübsche schwarzhaarige Junge, der mich ständig anlächelte“.
Hoffnungen sind wie Blüten.

Ob die Tauben wohl von der Freiheit träumen? Nur träumen, zu feige zum großen Flug. Ich kam schon mal bis München. Dann verließ mich der Mut. Rom sollte es werden. Rom und ein neues Leben. Es wurde ein Rückfahrticket.
Wenn du einmal umgekehrt bist, packst du´s nicht mehr. Dann bleibst du, und das Wort „Sehnsucht“ erhält eine neue Dimension.

Hier auf dem namenlosen Bahnhof trifft man all die Feiglinge. Die, die nie den Zug genommen oder verpasst haben. Willy, der Bettler, der seinen Verstand versoff und von morgens bis abends durch die Halle läuft.
„Ich bin de Willy, ich bin de Willy. Haste mal `en Euro. Ich bin de Willy, de Willy.“

Seine Liebe hat damals den Zug genommen. Konnte seinen Suff nicht mehr ertragen. Er kommt täglich und inspiziert alle ankommenden Züge. Hofft immer noch. Wie ein Wiesel hüpft er zwischen Bahnsteigen und Halle hin und her. In seinem Gang ähnelt er ein wenig dem Glöckner von Nôtre Dame. Deswegen nennen wir ihn Quasimodo. Meine Tauben mögen ihn nicht. Er ist ihnen zu wild und wuselig, stört ihre Mutlosigkeit.

Dann ist da noch die alte Helen. Die lungert immer in der Stehkneipe rum. Legt für ein Glas Bier ihre Titte auf die Theke …und für noch eins kannste damit spielen. Sie ist unsre Lady Dracula. Hat oben nur noch ihre Schneidezähne im Mund … lispelt sich einen ab. Wenn die richtig voll ist und in Fahrt kommt … aber Hallo!
Dann läuft die Helen schon mal durch den Bahnhof und macht fremde Männer an.
„He, Alter! Für ´nen Fuffi mach ich es dir“, öffnet ihren Mund, und zeigt ihnen das, was sie erwartet.
Wir lachen uns ´nen Ast, wenn wir in die ängstlichen Gesichter der „Möchte-gern-und-doch-keinen-Mut-Freier schauen. Helens Alter hat ihr die Zähne aus dem Maul geschlagen. Sie hatte nicht rechtzeitig aufgehört zu weinen. Wegen der Totgeburt und den ewigen Vorwürfen. „Du bist schuld. Bist einfach zu blöd für alles. Als der Krebs ihr eine Brust nahm, schmiss er sie raus.
„Siehst aus wie ´en Zombie“, hatte er gesagt. Zombie und Dracula … sie verstand und ging.

Klaus hat vor einer Woche beschlossen zu gehen. Er nahm den ersten Zug am Morgen. Man fand seine Reste zwischen den Gleisen verteilt … Er hatte immer betont, dass er seine Tochter nicht missbraucht habe. Sie habe es ihm aus Wut angetan. „Vielleicht war ich wirklich zu streng mit ihr. Aber deswegen darf man doch seinen Vater nicht so in den Dreck ziehen!“ Mir steht kein Urteil zu. Wer weiß schon, kennt die Geschichten?

Eine Bild-Zeitung weht über den Boden. Hinterlässt Spuren von nacktem Fleisch, Nachrichten und Lügen zwischen den Gleisen und Kippen.

Nachts treffen wir uns in der alten Lagerhalle. Die Neuen und die Alten. Erzählen uns Lügen und Wahrheiten. Keiner kann sie unterscheiden. Spielt auch keine Rolle. Die meisten Geschichten lesen wir in den Gesichtern der Menschen auf den Bahnsteigen. Daraus modellieren wir uns eine Welt …
Letzte Nacht fragte mich ein Milchgesicht, wie es mich hierher getrieben hätte.
Ich schaute ihn an und schwieg.

Am nächsten Morgen ritzte ich ein paar Gedanken in meine Bank …


© Otto Lenk

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 Betreff des Beitrags: Re: Otto Lenk: Stationen II
BeitragVerfasst: Mo 1. Jul 2013, 19:48 
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 Betreff des Beitrags: Re: Otto Lenk: Stationen II
BeitragVerfasst: Do 4. Jul 2013, 16:55 
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