Grillsaison
"Lisbeth?"
Kurt Jäger streckte seinen Kopf aus der Wohnwagentür in die Nacht.
"Lisbeth?"
Um vier Uhr in der Frühe war seine Frau nirgends zu sehen. Kurt Jäger schaute sich nervös um und griff zur Taschenlampe, die wie immer auf dem Regal neben dem Eingang lag. Der Lichtkegel streifte über die Parzelle, ließ den Gartenzwerg kurz aufleuchten und hangelte sich an der Hecke entlang bis zum offen stehenden Tor.
"Lisbeth!"
Jäger stieg aus dem Wohnwagen und starrte das Tor an, als könnte es ihm verraten, wohin seine Frau gegangen war.
Der Weg über den Campingplatz schimmerte als helles Band, unterbrochen durch die Schatten einzelner Ebereschen und Zierpflaumen.
Jäger lauschte. Ein Käuzchen klagte den Neumond an und in den Büschen raschelte es heimlich.
Jäger straffte die Schultern und marschierte zur Nachbarparzelle. Entschlossen klopfte er an die Wohnwagentür, klopfte ungeduldig ein zweites Mal und trat einen Schritt zurück, als er drinnen Bewegung wahrnahm.
"Wer zum Teufel ..."
Die Tür flog auf und Paul Dörfler schluckte den Rest des Satzes.
"Was fällt dir denn ein, mitten in der Nacht so ein Spektakel zu machen?", fragte er statt dessen entgeistert. Von hinten sickerte die Stimme seiner Frau.
"Is was, Paule?"
Dörfler winkte ab.
"Wisst ihr, wo Lisbeth ist?"
Jäger konnte einen ängstlichen Unterton nicht verbergen. Dörfler schüttelte den Kopf.
"Ihr seid doch gemeinsam nach Hause von Schumachers Grillparty."
"Aber jetzt ist sie weg. Verschwunden."
Dörfler kratzte sich hinterm Ohr, gähnte und meinte widerwillig:
"Muss wohl was überziehen und dir beim Suchen helfen."
Als es dämmerte, hatten sie Lisbeth noch nicht gefunden.
"Hätte ich doch nur auf sie gewartet", jammerte Kurt Jäger. "Ich hätte sie nicht vom Waschhaus allein gehen lassen dürfen. Bei all dem, was in der letzten Zeit auf dem Platz passiert ist."
Dörfler versuchte vergeblich ihn zu beruhigen.
"Lass uns zurück gehen. Bestimmt ist sie längst im Wohnwagen und wundert sich, dass du nicht da bist."
Sie grüßten einen Bekannten, der mit seinem Dackel zur morgendlichen Runde aufbrach, als der Hund plötzlich hektisch anschlug und an der Leine zerrte. Der Wohnwagen eines holländischen Campers übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf das Tier aus. Neugierig schauten auch die Männer unter das Gefährt.
"Was hat der denn da gebunkert?", wollte Dörfler wissen.
Jäger bückte sich, stieß einen spitzen Schrei aus, warf sich auf die Knie und packte zu. Am Fuß zog er seine Frau unter dem Wohnwagen heraus.
Ein Blick auf das verfärbte Gesicht genügte, um zu erkennen, dass Lisbeth Jäger tot war.
* * * * *
"Hast du gesehen, wie viele verschiedene Grills hier herum stehen?"
Kommissar Franz Lehrbach zog einen lockeren Kreis mit der linken Hand durch die Luft, während seine rechte tief in der Hosentasche steckte. Sein Assistent Moritz Reinhardt grinste.
"Du kannst ja mal nach ihren Spezialrezepten fragen, während du sie wegen der Leiche vernimmst."
Lehrbach verzog den Mund.
"Unappetitlich. Aber so sind Leichen nun mal."
Die beiden blieben neben einer Gruppe Kollegen in weißen Overalls stehen.
"Was könnt ihr mir sagen?"
"Sie wurde erwürgt, irgendwann zwischen ein Uhr und vier Uhr morgens, dann unter den Wohnwagen geschoben. Am Fahrgestell haben wir Hautpartikel und Haare gefunden. Ob alle vom Opfer stammen, müssen wir noch klären."
Lehrbach nickte.
"Dann klappern wir mal die Camper ab und hören, was die zu sagen haben. Geh du zu den Nachbarn, Moritz, ich fange beim Ehemann an."
Lehrbach saß in der veloursgepolsterten Rundsitzecke des Sieben-Meter-Wohnwagens und bestaunte die Einrichtung, während Kurt Jäger versuchte, die Kaffeemaschine in Betrieb zu setzen.
Lehrbachs Blick wanderte über Flachbildfernseher und Vitrine mit Butzenscheiben zum Küchenbereich, den eine Schiebetür abtrennen konnte. Das Schlafzimmer musste am anderen Ende des Wagens liegen und ein Bad gab es sicher auch. Platz genug in Eiche rustikal mit Messingbeschlägen. Lehrbach schüttelte sich innerlich, als er sagte:
"Hübsch haben Sie es hier. Und so praktisch eingerichtet."
Jäger murmelte ein schwaches "Danke" und stellte zwei Tassen, Zucker- und Milchtopf auf den Tisch.
"Ich werde mir das nie verzeihen", lamentierte er. "Hätte ich auf sie gewartet am Waschhaus ..."
Jäger verstummte und ließ sich in die Polster sinken. Lehrbach hielt ihm seine Tasse hin.
"Sie waren also bei einer Familie Schumacher zum Grillen. Wer war noch dabei?"
"Dörflers und Bachs, wie immer. Wir treffen uns jeden Samstag reihum. Nächste Woche sind wir dran. Wären wir ... ich ..."
Jäger schniefte, zog umständlich ein Taschentuch aus der Hose und schnäuzte sich. Er starrte auf seine Kaffeetasse und sprach wie zu sich selber weiter.
"Wer konnte denn ahnen, dass es soweit kommt?"
Lehrbach ließ ein zustimmendes Räuspern hören und Jäger fuhr fort:
"Das waren doch alles Unfälle. Bis auf die Sache mit der Satellitenschüssel."
"Satellitenschüssel?", hakte Lehrbach nach.
"Ja, Paules neue Schüssel. Ich meine Herrn Dörflers. Irgendwelche Jugendliche haben sie abgerissen und den LMB zertrümmert. Dachten wir jedenfalls. Das war vor vier Wochen, als wir bei Gerd und Rita gegrillt haben, bei Bachs meine ich."
"Und die Unfälle?" Lehrbach beugte sich vor, rührte Zucker in seinen Kaffee und nippte.
"Lassen Sie mich nachdenken." Jägers Gesicht hatte wieder etwas Farbe angenommen.
"Samson hat es vor drei Wochen erwischt. Den Rehpinscher von Schumachers. Wir waren bei Paule, also bei Dörflers. Rippchen in Currymarinade. Genial."
Jäger leckte sich bei der Erinnerung genussvoll über die Lippen, dann biss er sich darauf und wurde wieder blass.
"Der Kleine wurde von der großen Gasflasche erschlagen, die hinter Schumachers Wohnwagen steht. Bumm und aus. Tragisch."
Lehrbach machte sich Notizen.
"Und weiter?"
"Vorletzte Woche war hier die Hölle los. Gerds Wohnwagen ist abgefackelt. Kurzschluss. Zehn Minuten und alles war vorbei. Wir saßen bei Schumachers und haben Cevapcici und Lammkoteletts gegrillt. Eine Rauchsäule, als hätte jemand öltriefendes Fleisch auf den Rost gepackt. Bis wir kapiert hatten, dass der Wohnwagen brannte, war es zu spät. Letzte Woche war deshalb auch Grillpause. Bachs brauchten erst einen neuen Wohnwagen."
Jäger sah Lehrbach direkt in die Augen und schluckte.
"Wir haben das für Unfälle, für Zufall gehalten."
Lehrbach klappte sein Notizbuch zu.
"Wir werden den Täter schon finden", versuchte er Jäger zu trösten, drückte sich aus dem weichen Polster hoch, klopfte dem Mann auf die Schulter und verließ den Wohnwagen.
* * * * *
"Sind die Pilze frisch? Dann nehme ich ein Jägerschnitzel", bestellte Lehrbach und verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen, als er an das Opfer dachte.
"Für mich auch", ergänzte Reinhardt, die Bedienung kritzelte ein paar Zeichen auf ihren Block und verschwand in Richtung Küche.
Lehrbach hob das Glas mit alkoholfreiem Bier und prostete seinem Kollegen zu.
"Wie die bei der Grillwut der Dauercamper mit ihrem Campingrestaurant überleben können, ist mir ein Rätsel. – Was hast du raus bekommen?"
Reinhardt setzte seine Apfelschorle ab und zückte sein Notizbuch.
"So ein Campingplatz hat was von einem kleinen Dorf. Cliquenwirtschaft, Tratsch, jeder weiß alles vom anderen. Freundschaft hier, Missgunst da. Wenn du die richtigen Fragen stellst, stichst du in ein Wespennest und die Informationen kommen Stachel voran geflogen."
Lehrbach schmunzelte.
"Und welche hat gestochen?"
"Es hat hier in den letzten Wochen einige unfreundliche Ereignisse gegeben."
Reinhardt sah seinen Chef wissend nicken und übersprang die Details.
"Alle betrafen ein und dieselbe Clicque. Kein anderer auf dem Platz wurde in diesem Jahr auf irgendeine Weise geschädigt. Vier der fünf Familien hat es bisher getroffen."
"Fünf?" Lehrbach horchte auf. "Du redest von Dörflers, Schumachers, Bachs und Jägers."
"Und Humperdincks. Die gehören auch dazu. Oder besser gehörten. Vor ein paar Wochen hat Hannelore Humperdinck ihren Heribert verlassen und der hat sich aus dem Kreis zurückgezogen. Muffeliger Typ, sagen die Camper. Seine Frau war wesentlich kontaktfreudiger als er."
"Wann war das? Wann ist Hannelore gegangen?"
Lehrbachs Nase kribbelte, ein untrügliches Zeichen, dass er auf eine Spur gestoßen war.
"So genau habe ich nicht gefragt. Eigentlich gehörte die Frau zur Clicque, er war mehr das Anhängsel. Wenn man dem Tratsch glauben darf."
"Ist er noch auf dem Platz? Hast du schon mit Humperdinck gesprochen?"
Reinhardt verneinte.
"Hey, ich bin zwar schnell, aber hexen kann ich nicht", beschwerte er sich.
Die Bedienung unterbrach seine Rechtfertigung, stellte zwei Teller vor den beiden ab und wünschte "Guten Appetit."
Lehrbach starrte das Schnitzel an, das seine Flügel über den Tellerrand schweben ließ und von einem Berg Champignons erdrückt wurde.
"Eindeutig in der Pfanne gebraten. Siehst du, wie die Panade Wellen schlägt?"
Er seufzte zufrieden, spießte einen Pilz auf und schob ihn in den Mund. Er kaute, lächelte.
"Mahlzeit, Kollege! Mit dem Fall geht's nach dem Essen weiter."
* * * * *
"Herr Humperdinck!" Lehrbachs Stimme übertönte den Heißluftfön, der Camper die Grillkohle zum Glühen brachte.
"Humperdinck, ich muss mit Ihnen reden!"
Der Mann wandte ihnen den breiten Rücken zu, blies weiter heiße Luft in den kunstvoll aufgeschichteten Haufen, bis das Feuer knisterte, legte den Fön zur Seite und schlenderte betont gelassen zum Gartenzaun.
"Polizei?", fragte er. "Wegen der Leiche?"
Er sah von Lehrbach zu Reinhardt und schob seine Hände in die Hosentaschen. Lehrbach nickte, hatte das Zittern der Finger gesehen, bevor diese in der Tiefe verschwanden. Er stellte seinen Assistenten und sich vor.
"Dürfen wir reinkommen? Es geht um die Vorfälle der letzten Zeit. Sie könnten das nächste Opfer sein."
Humperdinck schüttelte den Kopf.
"Ich nicht. Ich gehöre nicht zu dieser Clicque. Habe nie dazu gehört."
"Trotzdem würden wir gerne mit Ihnen reden."
Humperdinck öffnete das Gartentor und ließ Lehrbach und Reinhardt vorbei. Sein Blick huschte den Weg auf und ab, bevor er den beiden Polizisten folgte, die inzwischen am Gartentisch Platz genommen hatten.
"Ihre Frau gehörte dazu, nicht wahr?"
Humperdinck nickte.
"Eng befreundet mit den anderen?"
Humperdinck nickte wieder.
"Die hingen ständig zusammen. Die haben meine Frau aufgehetzt."
"Wie lange ist Ihre Frau schon fort?" Lehrbach ließ ihn nicht zu Atem kommen.
Humperdinck schluckte.
"Sechs Wochen. Was hat das mit dem Mord zu tun?"
"Vielleicht nichts, vielleicht alles." Lehrbach neigte den Kopf. "Es passt zeitlich."
Humperdinck zog die Brauen zusammen.
"Wie jetzt?"
"Ihre Frau verlässt Sie und kurz danach beginnen diese – nennen wir es Vorfälle. Ich könnte auch Racheakte sagen."
Humperdincks Hände fassten ein Stück Tischtuch.
"Immer, wenn die anderen sich zum Grillen treffen, passiert etwas."
Humperdinck knetete das Tischtuch, Lehrbach beobachtete seine Finger.
"Erst nur eine kleine Sachbeschädigung, dann wird's heftiger und schließlich ein Mord."
Humperdinck würgte die Wachstuchdecke, bis seine Fingerknöchel weiß wurden.
Lehrbachs Handy klingelte. Er murmelte "verdammt", drückte den grünen Knopf und grunzte "Ja!". Er hörte einen Moment lang zu, ließ dabei Humperdinck nicht aus den Augen. Mit einem "Danke" beendete er das Gespräch.
"Wir brauchen eine Haarprobe von Ihnen", erklärte er seinem Gegenüber. "Zum Vergleich."
Humperdinck wurde blass.
"Vergleich mit was?"
"Mit den Haaren und Hautpartikeln, die wir bei Lisbeth Jäger gefunden haben und die eindeutig nicht von ihr stammen."
Humperdinck sackte zusammen. Reinhardt atmete auf. Er hatte die ganze Zeit befürchtet, dass der Mann seinem Chef an die Gurgel gehen könnte.
"Die haben mein Leben zerstört", flüsterte Humperdinck.
Lehrbach und Reinhardt warteten, dass er weitersprach.
"Hannelore und ich waren glücklich miteinander. Bis diese Clicque sie verrückt gemacht hat. Erst reichte ihr unser kleiner Grill nicht mehr, es musste das neue Modell mit Lavasteinen und Räucherhaube sein. Dann wollte sie plötzlich eine Satellitenschüssel und einen Fernseher im Wohnwagen, damit sie irgendwelche blöden Soaps gucken konnte. Und der Köter von Schumachers hat immer an unsere Reifen gepisst. Und unser Wohnwagen war ihr mit einem Mal zu klein, zu alt, nichts genügte ihr mehr. Die Jäger hat sie aufgestachelt, dass sie etwas Besseres verdient hätte als mich."
Humperdinck war immer lauter geworden, schaute mit weit aufgerissenen Augen von Lehrbach zu Reinhardt.
"Die haben mein Leben zerstört, als sie Hannelore ganz verrückt gemacht haben."
"Und da haben Sie deren Leben zerstört", stellte Lehrbach fest.
"Ich wollte Lisbeth nicht töten", beharrte Humperdinck. "Aber sie hat sich über mich lustig gemacht, als sie vom Waschhaus kam."
Seine Finger drückten scharfe Falten in die Tischdecke.
"Sie hat mich einen Schlappschwanz und Versager genannt. Sie hat gesagt, es sei Zeit gewesen, dass Hannelore sich nicht mehr mit mir belastet. Ich hab gesagt, sie soll den Mund halten. Aber sie hat immer weiter geredet. Ich musste sie ..."
Seine Finger drehten das Tuch fest zusammen. Lehrbach legte seine Hände darauf.
"Herr Humperdinck, ich verhafte Sie wegen des Mordes an Lisbeth Jäger und wegen verschiedener Sachbeschädigungen."
Humperdinck stand auf und ließ sich mit schweren Schritten von Lehrbach und Reinhardt zum Auto führen, wo deren Kollegen ihn in Empfang nahmen.
"Das ging aber schnell."
Paul Dörfler und Kurt Jäger standen an Jägers Berberitzenhecke und schauten dem Polizeifahrzeug hinterher, das Humperdinck in Untersuchungshaft brachte.
"Herr Kommissar, dürfen wir Sie zu unserem nächsten Grillabend einladen? Wenn Sie mögen, können Sie gerne ein paar Rezepte haben."
Lehrbach lehnte ab und ging zum Auto, an dem Reinhardt schon wartete.
"Warum wolltest du denn nicht? Das wäre sicher was für deinen Gaumen gewesen, oder?"
Lehrbach schaute seinen Assistenten nachdenklich an.
"Schon. Aber mit dieser Truppe setze ich mich nicht gemeinsam an einen Esstisch. Da könnte ich noch das Kotzen kriegen."
© U.L., Mai 2010
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