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 Betreff des Beitrags: Was ist los mit der kleinen Frau?
BeitragVerfasst: Di 16. Feb 2016, 23:18 
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Registriert: Di 19. Jan 2016, 20:04
Beiträge: 150

Was ist los mit der kleinen Frau?


Ich beobachte sie schon seit langer Zeit, wie sie voller Hast und Unruhe
eine Vielzahl von Dingen kontrolliert. Immer wieder muss sie, wie aus einem
inneren Zwang heraus ständig den Gasherd kontrollieren, ob er auch wirklich
aus ist?
Der Blickkontakt alleine reicht schon lange nicht mehr. Nein. Sie ist
gezwungen, die Gasknöpfe mit den Fingern zu berühren, dann mit verschränkten
Händen auf den Rücken so weit Abstand zu halten, dass sie an die mögliche
Gefahrenquelle nicht mehr heranreicht...
Während sie laut zählt, dass selbst die Ohren es hören können, stampft sie
gleichzeitig mit dem Fuß auf. Ein abschließender Blick kann, wenn er nur ein
wenig abgelenkt ist von anderen Dingen, den Zweifel erneut hervorbringen.
Früh am Morgen, wenn der Schlaf noch in ihr ist, muss sie besonders wachsam
sein. Da sie weder ihren Ohren, noch ihren Augen, weder ihren Händen, noch
ihrer Stimme alleine glauben kann, ein Restzweifel die Kontrolle immer noch
verstärkt, ist sie mitunter gezwungen, dies Ritual unendlich viele Male zu
wiederholen.
Wenn ich sie so in ihren Verrenkungen betrachte, wo der Körper fast zu
sprechen scheint, frage ich mich, ob es möglich ist, dass sie wie ein
kleines Kind immer noch daran glaubt, Gedanken könnten Dinge berühren, ein
magischer Blick allein schon etwas Unvorstellbares auslösen könnte, wofür man
ihr dann möglicherweise die Schuld geben würde.
Woher nur diese grenzenlose Angst, die fliegt, fast wie ein Vogel von einem
Gegenstand zum anderen? Ob es um die Lampe geht, die aus ist. Ja sie ist aus.
Das Bügeleisen, was sicherheitshalber zur Beobachtung auf den Flur gestellt
werden muss, weit entfernt von der Steckdose, wobei der Stecker noch einmal
mit der vorher abgetrockneten Hand berührt werden muss, ob er nicht doch heiß
ist. Nein, es ist alles in Ordnung. Ich frage mich: Weshalb hat diese Frau
kein Vertrauen zu sich selbst und warum vertaubt sie ihre Sinne so? So sehr
ich mich auch bemühe, ich kann ihr Verhalten einfach nicht verstehen. Gern
hätte ich ihr unsinniges Verhalten weiterhin aus der Distanz heraus
beobachtet, aber ich fühle mich sehr eng mit ihr verbunden, so, als würd ich sie schon ewig kennen.
Mehrmals habe ich versucht, sie anzusprechen, um sie nach der Ursache ihres
eigenartigen Verhaltens zu befragen, aber ich erreiche sie nie. Ständig
weicht sie mir aus. Wahrscheinlich will sie nicht von alten Dingen sprechen.
Ich erinnere mich: Damals war es die Tür, die immer abgeschlossen sein
musste. Mit fast ohnmächtiger Wut wurde der Griff der Tür fast
herausgerissen,damit ja keiner nachts in die Wohnung eindringen konnte. Später
habe ich mich gewundert, dass sie nicht verschlossen war und ich mitten in der
Nacht das Haus betreten habe. Ich habe sie gefragt, ob damals, als sie noch ein
Kind war, jemand nachts ins Zimmer eingedrungen sei während sie schlief, und sie
dann einen irren Schrecken bekam, der sie nie mehr verließ, aber sie erinnert
sich nicht mehr, wie sie mir auch merkwürdig getrennt von eigenen Gefühlen
vorkommt. Vor Schreck vielleicht erstarrt.
Ich mache mir Sorgen um sie und habe ihr mehrfach meine Hilfe angeboten,
aber es scheint mir, als hätte sie aufgegeben und würde sich kaum
einem Menschen wirklich anvertrauen. Zuweilen fühle ich mich sehr hilflos,
wenn ich ihr zu erklären versuche, dass die Zwänge sie nicht immer vor unangenehmen
Gefühlen schützen werden und sie sich irgendwann einmal ihrer
Angst stellen muss.
Wenn ich den Verlauf betrachte, wie harmlos alles anfing, glaube ich, dass
die ständige Kontrolle die Angst verstärkt hat, so, als hätte man ihr
ständig neue Nahrung gegeben, sie aber immer in dem gleichen Käfig
gefangengehalten. Sie ständig aufgefüttert, ihr aber niemals die Freiheit
gegeben.
Ich gerate in hilflose Wut, wenn ich sehe, wie viel Energie die Frau aufbringt,
um ihre Angst zu binden, wie sehr sich schon alles verselbständigt und eigene
Gesetze bekommen hat und wie völlig egal es ist, ob sie den Kampf aushält oder
nicht.
Sie versucht, sich dann auch zu erklären, gibt ihren Leidensdruck zu und
probiert, sich anzulehnen.
An manchen Tagen, wenn Verzweiflung und Mutlosigkeit hinzukommen, habe ich
wenig Hoffnung und viel Mitgefühl. In ihrer größten Not nehme ich sie in
den Arm (wie leicht sie ist). Gemeinsam gehen wir ans Fenster und blicken in die
Nacht. Der Sternenhimmel über uns, der einäugige Mond. Dinge, die unendlich
vertraut und tröstlich sind. In solchen Nächten scheint alles möglich. Wir
sind der Wirklichkeit entrückt, gleichzeitig aber sehr nahe.
Ein Sturm kommt auf und bläst um uns herum. Wir halten uns fest an den
Händen. Uns wird ein wenig schwindelig wie auf einer Karussellfahrt. Ein
kalter Wind lässt alles ganz starr werden.,
Was geschieht mit uns?
Als der Boden ins Wanken gerät und wir eng aneinander gezwängt werden, wächst
zwischen uns eine vogelartige Gestalt, die wie wild um sich schlägt und uns
voneinander trennen will. Ich versuche mich ganz dünn zu machen, um das Tier
nicht zu berühren, gleichzeitig will ich den Kontakt zur Frau nicht ganz
verlieren. Jede Bewegung ist schmerzhaft, denn der Vogel lässt mich nicht
zu ihr. Ich sehe, wie das schreckliche Tier sich zur Frau herabbeugt und mit
hoher, heiserer Stimme Drohungen ausstößt. Meine ach so klugen Worte können sie
nicht mehr erreichen. Auch habe ich den Verdacht, das Vieh kennt all
meine Gedanken schon im voraus. Wie argwöhnisch es mich betrachtet. Was kann ich
tun?
Ich traue mich nicht, mit dem Tier zu kämpfen, da ich nicht weiß, wie
ein Vogelhirn denkt und welche Reaktionen mich erwarten.
Getrennt von der kleinen Frau, die, wie ich sehe, ihren Kopf vertrauensvoll
an den Flügel des Vogels angelehnt hat, bin ich verunsichert: Will sie ihn
besänftigen? Ist sie verliebt in die Angst? Gibt es so etwas?
Welche Möglichkeiten bleiben? Ich könnte versuchen, den Vogel in sein altes
Verlies einzusperren, aber ich glaube, er würde mit noch mehr Wut erneut
versuchen, sich zu befreien. Wenn ich in seine kraftvollen kalten roten
Augen blicke, scheint er mir ausdauernd und zäh, so, als hätte er in der
Gefangenschaft all sein Kräfte aufgespart. Irgendwo habe ich gelesen, dass es
ein Medikament geben soll, welches den Vogel zähmen könnte. Ich glaube aber,
gegen dieses Tier hilft noch kein Kraut der Welt.
Ich weiß nicht, wie lange wir so in Gedanken verloren am Fenster standen..
Ich hatte kein Gefühl mehr für Raum und Zeit.. Eine Verständigung mit der
Frau ist zur Zeit nicht möglich. Ich denke, wir werden warten, bis der Vogel
eingeschlafen ist, um dann das Unmögliche zu wagen, dieser Eishölle zu
entgehen.
Wir müssen das immer dünner werdende Eis betreten. Ob es uns hält? Wird es
möglich sein, die zu Eis erstarrten Zwänge, die uns Halt geben, auf denen
wir uns bewegen, gleichzeitig aufzulösen? Ein gefahrvolles Unternehmen. Aber
haben wir denn eine Wahl? Als der Morgen anbricht, machen wir uns auf den Weg.
Aufgetaute Schollen hindern uns beim Laufen und legen sich wie nasse, traurige
Tücher um unsere Beine. Wäre es klüger gewesen, vorher ein wenig zu üben, auf
dem Eis zu laufen? Hätte es uns geholfen herauszufinden, weshalb die Fluten uns
vielleicht überwältigen werden, während wir mit diesem Wissen dann im kalten
Wasser schwimmen? Ich weiß es nicht.

Geschrieben vor 20 Jahren, als ich auf der Psychosomatik gearbeitet habe.

Frage welches Bild passt dazu? Klein Melanie. Don Roesel oder der gelbe Vogel? Wollte es evtl. gemeinsam vorstellen auf meiner Ausstellung, bin mir aber nicht ganz sicher, andererseits hab ich Bilder zu der Geschichte gemalt und es gehoert zusammen.


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 Betreff des Beitrags: Re: Was ist los mit der kleinen Frau?
BeitragVerfasst: Mi 17. Feb 2016, 12:08 
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sehr eindrucksvoll!

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jedes nicht festgehaltene wort ist ein verlorenes wort - schreiben gegen die zeit, die noch bleibt ©mbpk


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 Betreff des Beitrags: Re: Was ist los mit der kleinen Frau?
BeitragVerfasst: Mi 17. Feb 2016, 14:07 
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eine sehr innere geschichte ... zu ihr werden wohl viele und immer wieder neue bilder passen smiley_52:

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bye, bye, my I


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 Betreff des Beitrags: Re: Was ist los mit der kleinen Frau?
BeitragVerfasst: Mi 17. Feb 2016, 14:31 
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Registriert: Di 19. Jan 2016, 20:04
Beiträge: 150

danke fuer die Rueckmeldungen. Ich war zunächst unsicher die Geschichte ins Forum zu stellen, aber da ich bisher, außer von Freunden, bisher keine Kommentare erhalten habe, war es mir einmal wichtig sie Leuten, die auch schreiben, zu zeigen.


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 Betreff des Beitrags: irrtümlich
BeitragVerfasst: Mi 17. Feb 2016, 21:48 
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Beiträge: 2190

...


Zuletzt geändert von parallele am Mi 17. Feb 2016, 21:53, insgesamt 1-mal geändert.

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 Betreff des Beitrags: Re: Was ist los mit der kleinen Frau?
BeitragVerfasst: Mi 17. Feb 2016, 21:52 
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Registriert: Do 20. Aug 2015, 21:02
Beiträge: 2190

Habe die Erzählung gelesen und fühle mich berührt.

Klein Melanie scheint mir eine andere Figur. Sie ist lieblich, wenn auch erstarrt in Abwehr.

Die kleine Frau scheint mir vor Angst in rastloser Aktivität.

Den dazwischendrängenden Vogel habe ich als böse empfunden. Ich fürchtete, er wollte sogar hacken. Nur Drohungen? Auf jeden Fall ein anderer Vogel (für mich) als der kuschel-gelbe Vogel bei Don Roesel.

Aber jetzt muss ich die Bilder noch einmal anschauen.


oh, er ist ja grün, der Vogel bei Don Roesel. Auf jeden Fall ist er dicht bei ihr. Das passt zur Geschichte.

Klein Melanie - da wäre der Moment eingefangen, als der Vogel auf dem Weg zu ihr ist. Sie ihn noch fernhalten will.


Mmh, so sehe ich es.


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 Betreff des Beitrags: Re: Was ist los mit der kleinen Frau?
BeitragVerfasst: Mi 17. Feb 2016, 22:09 
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Registriert: Di 19. Jan 2016, 20:04
Beiträge: 150

Ja, du hast recht. Klein Melanie ist auf dem Bild noch in der Lage ihn fernzuhalten oder ihn sogar zu hypnotisieren, was mir gefallen würde. In Don Rösel ist er sehr eng, zu eng und der gelbe Vogel hat Macht und ist stark. Danke für deine Meinung. Es ist wichtig wie andere es sehen und wahrnehmen.


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