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 Betreff des Beitrags: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben
BeitragVerfasst: Do 18. Feb 2016, 16:27 
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http://www.amazon.de/Mein-Leben-Marcel- ... mein+leben


Marcel Reich-Ranickis Beschreibung seines eigenen Lebens habe ich dieser Tage zum zweiten Mal gelesen, weil ich nach einem Zitat suchen wollte, von dem ich meinte, ich hätte es in diesem Buch gelesen, dessen Quelle ich aber leider nicht notiert hatte. Der Satz lautete: „Gedichte brauchen Sympathie.“

Um es gleich zu sagen: ich habe diesen Satz in Reich-Ranickis Buch nicht wiedergefunden. Nun ist natürlich die Frage, ob er überhaupt von Reich-Ranicki stammt oder ob er ihn vielleicht in einem anderen Zusammenhang geäußert hat. Ich weiß es nicht, aber ich kann mir nicht helfen, er klingt so sehr nach ihm. Und so werde ich wohl einfach weitersuchen müssen.

Wie dem auch sei, „Mein Leben“ gehört zu den Büchern, die ich wiederholt lesen muß, weil es sich um deutsche und europäische Geschichte handelt, die mich zutiefst angehen wird, solange ich lebe. Damit verflochten ist meine eigene, wie ich sie in den sechziger und siebziger Jahren in der BRD erlebt habe.

Jeder annähernd an deutschsprachiger Literatur Interessierte kennt wohl den Namen Marcel Reich-Ranicki, er hat es zu einer ziemlich beispiellosen Prominenz gebracht und war in vieler Hinsicht ein Zeichen unserer Zeit. Jener Zeit nach der Zerstörung alles dessen, was gut war an deutschem Geistesleben durch die Nazis. Meine Generation wuchs in ein geistiges Vakuum hinein, dessen Leere wir von Anfang an fühlten, aber erst nach und nach begriffen. Unsere Empörung darüber, was von der vorausgegangenen Generation angerichtet worden war, machte sich dann um 1968 herum Luft, so daß wenigstens ein Teil des „Muffs von tausend Jahren“ verfliegen konnte, wenn auch nicht viel mehr. Ein großer Teil dessen, was uns rettete, waren unter anderem die langen Artikel über deutsche Literatur, die wir in der „Zeit“ lesen konnten, die uns Perspektive gaben, die wichtigsten davon von Marcel Reich-Ranicki.

Niemand wußte viel über ihn und seine Geschichte, und wie er selbst in "Mein Leben" schrieb, so fragte auch niemand danach. Nicht eine Frage galt jemals dem, was er und seine Familie als Juden im Warschauer Ghetto und in Treblinka erlitten hatten. Man brauchte ihn in der neuen BRD, aber man hielt ihn sorgfältig auf Abstand, das galt sowohl für sein berufliches wie für sein privates Leben, nachdem er endlich und völlig mittellos 1958 aus Polen in die BRD hatte übersiedeln können. Seine persönliche Leidenschaft und Liebe zur deutschen Literatur war im Grunde alles, was ihn ein Leben lang über Wasser hielt, sowohl materiell als auch seelisch. Ich hatte nicht gewußt, daß er so einsam war und geblieben ist. Man weiß inzwischen, wie kompliziert die Seelenlage der Deutschen nach der Nazizeit war, in den sechziger und siebziger Jahren lebten ja alle noch, Täter wie Opfer, und viele hatten sich kunstvoll von Ersterem zu Letzterem stilisiert, die meisten kämpften mit unterschwelligen Schuldgefühlen, die sich unter anderem auch in Abweisung und Aggression äußern konnten. Marcel Reich-Ranicki hat den verdammten Deutschen so gut wie im Alleingang ihre verlorene Kultur zurückgegeben, und das haben sie ihm nicht verziehen.

Nie wieder wird für die deutschsprachige Dichtung geschehen, was er getan hat als Ressortleiter für Literatur bei der „Frankfurter Allgemeinen“. Ich besitze alle 37 Bände der „Frankfurter Anthologie“, in der Gedichte aus allen Zeitaltern von Dichtern und Kennern besprochen werden, die seine Idee gewesen war und die er herausgab, es ist der größte Schatz meiner Bibliothek.

„Mein Leben“ ist ein erschütterndes und ermutigendes Buch, das Pflichtlektüre in allen Schulen sein sollte. Es ist nicht zuletzt ein wunderbar lebendig geschriebenes Buch, das zu lesen bei allem Schweren eine Freude ist. Ich habe diesen Mann nicht für seine literarischen Urteile geliebt, die für mich kaum Bedeutung hatten, aber für seine unbedingte Bereitschaft, zu lieben, leidenschaftlich zu lieben, und sich auf´s Spiel zu setzen für das, was er liebte und für die, die er liebte.

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 Betreff des Beitrags: Re: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben
BeitragVerfasst: Do 18. Feb 2016, 19:01 
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Mich hat das Buch auch sehr berührt.

Und dem Zitat, dessen Urheber du nicht kennst, möchte ich ein weiteres zur Seite stellen.
Kürzlich in einer Lesung mit Elke Erb im Gespräch gehört:

Zitat:
Gedichte sind lebendige Wesen.


Das passt doch zusammen, Eva? Gedichte sind lebendig und brauchen Sympathie - wie auch wir Menschen. Schreiber oder Leser oder überhaupt.


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 Betreff des Beitrags: Re: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben
BeitragVerfasst: Do 18. Feb 2016, 20:40 
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ja, das paßt wirklich sehr gut zusammen, so ist es smiley_102:

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 Betreff des Beitrags: Re: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben
BeitragVerfasst: Do 18. Feb 2016, 22:18 
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Was für eine Persönlichkeit...was für ein außerordentlicher Mensch.

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 Betreff des Beitrags: Re: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben
BeitragVerfasst: Fr 19. Feb 2016, 20:47 
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oh, das werd ich lesen, das klingt alles sehr spannend und interessant - danke eva smiley_45:


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 Betreff des Beitrags: Re: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben
BeitragVerfasst: Sa 20. Feb 2016, 15:09 
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Hallo Eva,
hab die Biografie vor Jahren gelesen und auch den Film gesehen. War beeindruckt von seinem umfangreichen Wissen über die deutsche Literatur. Muss das Buch vielleicht noch einmal lesen, weil es schon so lange her ist und ich einiges vergessen habe.


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 Betreff des Beitrags: Re: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben
BeitragVerfasst: Sa 20. Feb 2016, 17:01 
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Ach, ach, Eva,
ich hatte das Buch ruhig auf Halde liegen, zusammen mit den 30 - 40 anderen im Asphodeliengrund, nahe der Bettstatt. - Immerhin könnte der Tag kommen, an dem sich kein einziges Ungelesenes findet - und was dann?
Jetzt beginne ich zu schmökern und bin 45 Seiten spannender Lektüre weiter. Leider musste ich mir bereits "Seelisch verwendbar" (Kästners Lyrik) dazubestellen, das von seiner Frau und ihm herausgegeben wurde. Da "Mein Leben" knapp 570 Seiten zeigt, werde ich wohl noch so manches dem Zwischenreich zuordnen müssen. ...
Und wer ist an dieser Misere schuld? Duuhu! smiley_2:

Leicht scheltende, doch ungebrochen bibliophile Grüße
Heidrun

Zum erwähnten Zitat: Das hört sich wirklich stark nach Reich-Ranicki an, könnte evtl. einem Vorwort zu einer seiner Anthologien entwichen sein -. Oder von Hans Magnus Enzensberger stammen, der sich ebenfalls gern in dieser Richtung äußerte.


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 Betreff des Beitrags: Re: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben
BeitragVerfasst: Sa 20. Feb 2016, 18:00 
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hocherfreut bekenne ich mich schuldig im sinne der anklage smiley_2:

und solltest du jemals auf dieses zitat stoßen, bitte sag bescheid, heidrun! smiley_63:

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bye, bye, my I


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