Einbildung
Sie war es, die es vorzog zu Fuß zu gehen. Vorangegangen waren Streitigkeiten, nicht der Rede wert, doch dieser Tage war sie sonderlich empfindlich. Mit seiner Schuldzuweisung konnte sie nicht umgehen. Die Hormone sind wohl mit ihr durchgegangen, als sie ihn auf dem Parkplatz stehen ließ. „Ach! Jetzt bin ich schuld?“. Mit diesen Worten lief sie davon. Einige Schritte gelaufen, überkam sie panische Angst. Mitten in der noch fremden Stadt und kein Handy dabei. Vorn an der Kreuzung konnte sie gerade noch das Kennzeichen seines Autos verschwinden sehen.
Verunsichert lief sie zurück. Ob er umkehren und sie holen würde? Als nichts geschah trat sie wohl wissend, dass sie ihr Ziel zu Fuß niemals erreichen könne, den Heimweg an. Die Verbindungsstraße zum Nachbarort schien ihr heute viel steiler. So bahnten sich erste Tränen den Weg ans Tageslicht. Er müsse sie doch hier vermuten, … sie, … und das kleine Wesen in ihrem Bauch?! Ruhigen Schrittes ging sie und versuchte gleichmäßig zu atmen.
Eine kleine Unendlichkeit schien vorüber, als sie den Nachbarort erreicht und durchquert hatte. Mit der rechten Hand hielt sie ihr Kind, die linke trug sie auf dem Herzen. Das Kartentelefon am Wegesrand half ihr nicht weiter. Samstagmittag – die meisten Geschäfte hatten bereits geschlossen. Wieder Ortsausgang, … endlos weite graue Felder, Kälte und ein Fußweg, der in einen Straßengraben mündete. Die Bundesstraße tat laut ihrem Namen gleich.
Das Baby rief sich mit heftigem Strampeln in ihre Einsamkeit. Neben ihm trug sie Verantwortung. Weiter gehen konnte sie nicht. Einen noch offenen Getränkebasar hatte sie wenige Meter zuvor wahrgenommen. Vielleicht ließ man sie telefonieren? Die verwunderte Verkäuferin erlaubte es nicht. Im Gehen blieben Worte der Entschuldigung im Halse stecken, … der Tränen wegen.
Mit zittrigen Fingern wählte sie schließlich seine Nummer auf den fremden Tasten. Er war planmäßig zum Tagesablauf übergegangen. In einer halben Stunde könne er da sein. Erschöpft sank sie auf den kalten Steinen nieder und weinte sich die Seele leer, sodass alle Taschentücher der Welt die Tränen nicht trocknen konnten.
Er war es, der am Abend mit einem Buch ins Schlafzimmer ging, … die Augen würde es ihm zuziehen.
Kerstin Wiegand ©
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