Viele Personen, verwickelte Handlungsstränge, zahlreiche Schauplätze, eine komplexe Sprache - wenn das die Ingredienzien für ein spannendes Buch sind, dann müsste "Im Rausch der Stille" eigentlich der Flop der Saison werden. Doch der Roman hat absolut das Zeug zum Bestseller. Wie ein Kammerspiel inszeniert Albert Sánchez Piñol seine Geschichte: eine einsame Insel, zwei Männer - und ach ja: die Seeungeheuer natürlich. Ein irischer Freiheitskämpfer verzweifelt an seinem Krieg und flieht vor der Zivilisation. Er lässt sich als Wetterbeobachter auf einem unbewohnten und unwirtlichen Eiland am Ende der Welt anstellen. Wider Erwarten ist er dort nicht allein, doch der Mann im Leuchtturm scheint verrückt geworden zu sein. Bei Einbruch der Dunkelheit erfährt der Neuankömmling den Grund: Blutrünstige Gestalten entsteigen dem Meer und gieren nach frischem Fleisch.
"Sechs, sieben Arme, die sich wie Tenakel bewegten, dahinter heulende Gesichter aus einer Unterwelt von Lurchen, Riesenaugen, Pupillen wie Nadeln, zwei Löcher als Nase, kleine Augenbrauen, keine Lippen, der Mund groß." Nacht für Nacht kämpfen die beiden Männer um ihr Leben. Der Leuchtturm wird zur Festung gegen die Mächte des Meeres. Doch am Tag weichen die Fronten auf. Ein weibliches Froschwesen mit engelsgleicher Stimme und magischen sexuellen Fähigkeiten wechselt die Fronten. Und auch die Kinder sind ja eigentlich ganz süß. Schon bald verläuft eine zweite Front innerhalb des Leuchtturms.
Als am Ende aller Hoffnungen tatsächlich ein rettendes Schiff kommt, treffen die vermeintlichen Retter "einen Mann, der die Verbannung der Unordnung vorgezogen hatte und der die Reise in die umgekehrte Richtung nicht mehr ertragen konnte". Die menschlichen Eindringlinge auf der Insel erscheinen ihm wie "eine ganze Gruppe Gespenster".
Albert Sánchez Piñol hat eine kräftige, zupackende Sprache. Der Text schreitet zielstrebig voran, verliert sich weder in detaillierten Beschreibungen noch in Nebenhandlungen. Erzählerische Mätzchen liegen ihm so fern wie diese Insel der Zivilisation.
Gut möglich, dass die Geschichte als Parabel gemeint sein könnte. Die Monster als Fleisch gewordene Gespenster der Vergangenheit, die man nur bekämpfen kann, indem man sich mit ihnen versöhnt? Der Leuchtturm als Sinnbild für die existenzielle Einsamkeit des Menschen unter seinen Artgenossen? Mag sein. Doch "Im Rausch der Stille" ist auch dann eine gute Geschichte, wenn man die mögliche tiefere Bedeutung außer Acht lässt.
Wer Yann Martels "Schiffbruch mit Tiger" mochte, wird dieses Buch lieben. Und wem Paulo Coelhos "Alchimist" zu platt war, findet hier eine Parabel, die ihre Botschaft nicht wie eine Monstranz bei der Prozession vor sich her trägt. Nach dem Überraschungserfolg in Spanien 2002 kommt das Buch in Deutschland vergleichsweise spät auf den Markt. Der Debütroman des Anthropologen wurde seither bereits in 28 Sprachen übersetzt. Für die deutsche Version wählte die Übersetzerin Angelika Maass einen neuen Titel: Statt wie im katalanischen Original "Die kalte Haut" heißt das Werk nun "Im Rausch der Stille" - ein schönes Bild, das die Isolation und den Wahn der Figuren poetisch umschreibt.
Quelle: Stuttgarter Zeitung
_________________ Bleibe Dir immer treu
|